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Matisse and the sea

Matisse and the sea

Zwei Bilder entstanden 1907 in Paris, die in der Geschichte der westlichen Avantgarde wie Erdbeben wirkten: Picassos monumentales Gemälde „Demoiselles d’Avignon“, das heute zur Sammlung des Museum of Modern Art in New York gehört, läutete den Kubismus ein. Das andere der beiden Programmbilder, „Les Baigneuses à la tortue“ (Badende mit Schildkröte) von Henri Matisse, hängt heute ebenfalls in den USA und ist im Vergleich zu dem kanonischen Werk Picassos nahezu vergessen. Schockwellen haben indes beide Bilder ausgelöst: Obwohl Picassos „Demoiselles d’Avignon“ über Jahre hinweg unverstanden blieb (und mehr als zehn Jahre lang keinen Käufer fand), wurde es zum Auslöser der Formzertrümmerung des Kubismus. Das Bild von Matisse hingegen hatte zwar ebenso mit allen Traditionen der Schönheit gebrochen, aber es ebnete den Weg zu den großen Dekorationsmalereien von Matisse und Dufy und postulierte eine ganz auf Harmonie und die Eigengesetzlichkeit des Bildes konzentrierte Ästhetik: Die drei, um eine Schildkröte versammelten Frauenakte vor grünen und blauen Farbflächen repräsentierten für Matisse eine ganz vom Künstler ausgehende Komposition, die allein auf Ordnung und Klarheit abzielte – und somit, ebenso wie das Werk Picassos den Weg der Kunst in die Abstraktion ebnete.
Zu Recht widmet das Saint Louis Art Museum, zu dessen Sammlung das monumentale Bild von Matisse heute gehört, diesem nun schon zum zweiten Mal eine Monographie, die – neben Exkursen zu einigen weiteren Badeszenen von Matisse – ganz der Eigenwilligkeit, der Bedeutung und der Geschichte dieses Bildes gewidmet ist. Die Rezeptionsgeschichte des Bildes entpuppt sich dabei als eine transatlantische Kunstgeschichte: Gleich nach Fertigstellung konkurrierten zwei Sammler darum, es in ihre Sammlungen aufnehmen zu können. Der westfälische Unternehmersohn und Museumsgründer Karl Ernst Osthaus war schnell entschlossen und erhielt den Zuschlag, das Bild erwerben zu können, was wiederum den russischen Großsammler Sergej Schtschukin auf den Plan rief, weitere großformatige Kompositionen bei Matisse in Auftrag zu geben.
Im Museum Folkwang Essen fiel das Gemälde 1937 schließlich der Aktion „Entartete Kunst“ zum Opfer, so dass es über die Sammlung des Zeitungsmagnaten Joseph Pulitzer jr. in die Vereinigten Staaten gelangte, wo es 2003 in der legendären Ausstellung „Matisse Picasso“ des Museum of Modern Art zum ersten Mal in direkter Nachbarschaft zu dem berühmteren Werk Picassos zu sehen war.
Es ist das Verdienst der – leider nur auf Englisch vorliegenden – Neuerscheinung, nun auch dem anderen „Painting That Shocked the World“ die entsprechende Aufmerksamkeit zukommen zu lassen. Die Wiederentdeckung und das Staunen über eines der – wie die Matisse-Biographin Hilary Spurling schreibt – seltsamsten Gemäldes, das Matisse je geschaffen hat, lohnen sich! Die Essays und Illustrationen der Neuerscheinung entspinnen erstmals einen roten Faden von den „Badenden mit Schildkröte“ der Jahre 1907/08 bis zu dem großen Paper Cuts des Spätwerks von Matisse, wie dem atemberaubenden Panorama „The Swimming Pool“.

01.03.2024
Rainer Stamm
Matisse and the Sea. Das Meer & der Maler - Matisse und sein ikonisches Gemälde »Badegäste mit einer Schildkröte«. Hrsg.: Kelly, Simon. Englisch. 144. S. 10 fb. Abb. 29 x 24 cm. Hirmer Verlag, München 2024. EUR 42,00.
ISBN 978-3-7774-4269-3
 
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