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Das natürliche Kunstwerk.

In der Kunstgeschichte fehlte bislang ein instruktiver Ein- und Überblick in diese historisch-systematische Genese des sozialen neuzeitlichen Konzepts der Natürlichkeit. Der jüngere Kunsthistoriker Jan von Brevern hat nun in seinem Band „Das natürliche Kunstwerk" diese große Lücke geschlossen. Man kann sagen, dieses Ziel ist ihm in dieser als Habilitation realisierten Schrift überaus geglückt. Der in Weimar lehrende Professor entwickelt aus einem eng verschlungenem Netzwerk von verschiedensten historischen Quellen und einer beeindruckenden Zusammenstellung von Positionen auch des XX. Jahrhunderts ein eindrucksvolles Panorama der moderne Idee einer "Sehnsucht von Natürlichkeit", die seit dem 18. Jahrhundert in erstaunlich vielen Bereichen zu beobachten ist. Was von Breverns Untersuchung ebenso spannend wie auch lehrreich zum Vorschein bringt, ist die Tatsache, dass der Begriff der Natürlichkeit schon frühzeitig als paradox an sich selbst gesteigerte Größe konstruiert wurde. Das Natürliche entstehe, so der Autor, verallgemeinernd als ein Effekt der Selbst- und Fremdbeobachtung. Je mehr wir auf das Gewohnte einer Handlung, eines Gedankens oder eines Bild-Motivs achten, desto weniger tritt es ins Bewusstsein. Gerade in der ästhetischen Erfahrung von Kunst tritt dieses Phänomen auf und in bestimmten Fällen plötzlich ins rezipierende Bewusstsein. Bezeichnenderweise beruht die Einsicht oder Sehnsucht von Natürlichkeit auf der Idee, dass man Selbst und Fremdbeobachtung vergessen müsse, "um sich so zu verhalten, als sei man unbeobachtet" (S. 148). Zu den spannendsten Kapiteln seines Bandes, das sich so unterschiedlichen Aspekten wie die künstlich-natürliche Wildnis bei Rousseau, den Katastrophenbildern von Lutherbourg oder der Rekonstruktion von Malweisen und Schreibweisen und der Kunst des Spazierengehens im Kontext des Natürlichen widmet, gehört van Breverns Exkurs über die eigenartige Abwesenheit und Präsenz des Selbstverständlichen, die das Natürlich gleich kennzeichnet wie auch notwendig unbeachtet lässt. "Wann und wie wird etwas selbstverständlich und damit zu einem Teil der natürlichen Lebenswelt." (S. 127) Unter welchen Umständen kann das Selbstverständliche - quasi als Schwester des Natürlichen - "wieder hervortreten und als Besonderes sichtbar werden". (ebda.) Mit subtilen Fragen dieser und anderer Art gelingt es dem Autor nachdrücklich die Enge und Kurzsichtigkeit einer älteren Begriffsgeschichte zu sprengen und das Natürliche in seiner komplexen Wechselwirkung mit einer jeweils aktuellsten Funktion von Kunst unerwartet aktiv neu zu konstellieren. Von Brevern herangezogene gut gewählte Zitate von Autoren wie Schelsky, Gehlen, Blumenberg, Adorno und Barthes im letzten Kapitel (S. 211f) belegen, dass die Idee der künstlichen Natürlichkeit im 20. Jahrhundert noch virulent blieb, wenngleich sie auch von "allen Seiten unter Beschuss geriet". Man darf gespannt sein, wie van Breverns instruktive und animierende Ideen-Intervention möglicherweise auch Teil der kritischen Kunstwissenschaft selbst methodisch beflügeln wird.

06.01.2023
Michael Kröger
Das natürliche Kunstwerk. Zur Ästhetisierung von Natürlichkeit im 18. Jahrhundert. Brevern, Jan von. 275 S. 40 z.T. farb. 23 x 15,5 cm. Gb. Konstanz University Press, Konstanz 2022. EUR 34,00.
ISBN 978-3-8353-9153-6
 
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