KunstbuchAnzeiger - Kunst, Architektur, Fotografie, Design Anzeige Verlag Langewiesche Königstein | Blaue Bücher
[Home] [Kunst] [Rezensionen] [Druckansicht]
Themen
Recherche
Service

[zurück]

MY LAST WILL

Das Buch bietet eine große Enttäuschung: Hat man die elegante schuberartige Umschlagslasche mit der zurückhaltenden Aufschrift „My Last Will“ geöffnet, bieten sich nichts als leere Seiten. Auch schön, denkt man, kann man also über den eigenen letzten Willen sinnieren, während die seltsam dicken Seiten durch die Finger gleiten. Trigger-Warnung: Es gibt doch einen Inhalt, um den es ab hier nun geht.
Die Technik, dass die Seiten eines Buches nicht aufgeschnitten sind, war lange selbstverständlich. Sie stammt noch aus der Zeit, als man kein Buch im heutigen Sinne erwarb, sondern einen Textblock mit Buchdecke, dem man vom Buchbinder einen persönlich gewünschten Einband verpassen ließ. Die nach dem Drucken gefalzten Papierbögen wurden dann beim Binden zu einzelnen Seiten aufgeschnitten und das Buch erst zur Einheit von Umschlag, Einband und Buchblock. In Frankreich existiert diese Tradition der unaufgeschnittenen Seiten zum Teil heute noch und ansonsten begegnet man ihr allenfalls bei sehr bibliophil aufwendig gemachten Büchern.
Hier nun begreift man schnell, dass der Inhalt sich innerhalb der unaufgeschnittenen Seiten verbirgt. Und im Blättern fällt einem auch ein Karton in die Hände, der nicht nur als Einmerker, sondern auch als Seitenöffner verwendet werden kann. Hat man sich entschlossen, die Makellosigkeit zu zerstören, öffnet man Seite um Seite, als würde ein Dokument entsiegelt. Und damit ist man schon bei einem Aspekt des letzten Willen, des Testaments: Man versiegelt und hinterlegt es an sicherer Stelle, weil es erst für die Zeit nach dem Ableben des Verfassers dient. In diesem Künstlerbuch antworten 32 internationale Ku?nstler*innen und Künstlergruppen auf die Frage „Was bleibt nach meinem Tod?“. Auf das Name Dropping soll hier verzichtet werden. „Sie setzen sich individuell mit ihrem Vermächtnis auseinander und versuchen jeder für sich mit einer zentralen Aussage oder anhand eines paradigmatischen Werkes den Kern dessen zu treffen, was ihr künstlerisches Ziel und Interesse ausmacht. Dabei hinterfragen sie deren mutmaßliche Bedeutung für eine Zukunft, die sie selbst nicht mehr erleben werden und deren Wertmaßstäbe ihnen noch gänzlich unbekannt sind.“ Soweit der Pressetext zu der Ausstellung in den Kunstsammlungen Chemnitz, die anschließend im Casino Luxembourg – Forum d’art contemporain gezeigt wird und die das Buch begleitet. Gestellt hat diese Frage das Künstlerduo M+M, das sind Marc Weis und Martin De Mattia, die seit den 1980er Jahren zusammenarbeiten. Sie kooperieren in ihren Projekten und Ausstellungen nicht nur immer wieder mit anderen Künstler*innen, sie haben mit der „Pie Bible“ von 2008 bereits ein ganz anders geartetes Künstlerbuch geschaffen, das auch aus einer Vielzahl von Beiträgen entstand.
M+M sehen die Frage, „Was bleibt?“, vor dem Hintergrund der Pandemie und eines Krieges in Europa und dem damit einhergehenden Perspektiv- und Wertewechsel. Aber unbesehen von diesem aktuellen Bezug ist es ja eine grundsätzliche Frage des Menschseins, dass wir in der – nicht nur angenehmen – Lage sind, über unser Leben hinaus denken zu können. Übrigens eine Frage und das Testament eine Antwort, die nicht in allen Kulturen so existieren, wie es uns Europäern selbstverständlich scheint. So vielstimmig die Schar der Beiträge, so groß ist die Bandbreite dessen, was denjenigen erwartet, der bereit ist das Buch wahrhaftig zu öffnen.
Beim Begriff Testament kann man an tiefsten Ernst denken und die gediegene Tragweite als dessen Ergebnis. Aber die Frage nach dem letzten Willen, löst ja auch die Frage nach dem eigenen Sterben aus und die vielen Fragen, was werde ich mit meinem Leben vor dem Tod noch machen? Die Antworten hier sind in jeder Beziehung ebenso vielfältig wie überraschend. Das beginnt damit, dass sich in dem makellosen Weiß des Buches mit einem Mal panoramagroße Bilder auf den Doppelseiten öffnen können, dass sich Skizzen und Bilder mit Texte abwechseln. Aber es kann auch grausam, erschreckend, abstoßend oder gar obszön werden. Es sei nur so viel verraten: Der Gedanke ans Ableben kann auch zum Denken an höchste – letzte – Vitalität führen.
Auf eines sei aber abschließend hingewiesen: Wenn man die 552 Seiten aufgeschnitten hat und damit ein völlig neues Buch in Händen hält, liegt die Versuchung nahe, noch ein neues Exemplar zu erwerben, das unaufgeschnitten bleibt. Zu perfekt war die makellose Schönheit beim ersten Öffnen. Das geschichtsträchtige und unendlich vielfältige Medium des Künstlerbuchs ist hier noch einmal um eine neue Drehung weitergedacht worden. Und an dem Thema kommen ohnehin alle nicht wirklich vorbei.

02.10.2023
Andreas Strobl
MY LAST WILL - CHEMNITZ, KUNSTSAMMLUNGEN - Catalogue ed. by M+M (Weis/ De Mattia) & Frédéric Bußmann. Chemnitz/Luxembourg 21 x 30 cm. 552 S. 159 davon 117 fb. Abb., Br. Kunstsammlungen Chemnitz, 2023. EUR 45,00.
ISBN 978-3-930116-71-3
 
© 2003 Verlag Langewiesche [Impressum] [Nutzungsbedingungen]