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Leonardo da Vinci – Das Auge der Welt

Zum 500. Todestag Leonardo da Vincis am 2. Mai 1519 ist kürzlich ein neues Buch über sein Leben erschienen, verfasst von Volker Reinhardt, Professor für Geschichte der Neuzeit an der Universität Fribourg, einem derzeit führenden Renaissance-Experten. Der Zugang des Autors zu dem großen Künstler ist neu, und zwar durch die "literarische Produktion Leonardos ..., die bisher allenfalls am Rande Beachtung gefunden hat." Der natürliche Sohn eines Notars habe "nicht nur die ungeheure Menge seiner Zeichnungen reichhaltig kommentiert, sondern auch Texte verfasst, in denen er seiner Sicht der Welt einen drastischen, oft satirischen und vor allem eindeutigen Ausdruck verleiht." Gemeint ist in erster Linie das gigantische Korpus an Notizbüchern des Künstlers, das von Jean Paul Richter (1847 Dresden - 1937 Lugano) herausgegeben wurde. Seit ihrem erstmaligen Erscheinen 1883 ist diese Leonardo-Edition ständig erweitert, verbessert, korrigiert, vervollständigt und kommentiert worden. Richters Lebenswerk eröffnete der Leonardo-Forschung neue Sichtweisen; schließlich tritt Leonardo darin als Techniker, Anatom, Naturforscher u.Ä. hervor; ja, im faschistischen Italien der dreißiger Jahre avancierte Leonardo dadurch gar zum Pionier der modernen Ingenieurskunst - was er gar nicht sein konnte, wie der Autor betont. Andere Quellen für Reinhardts Ansatz sind u.a. Verträge, notarielle Aufzeichnungen sowie z. B. eine Steuererklärung der Erbengemeinschaft Antonio da Vincis, dem Großvater Leonardos, und andere offizielle Schreiben; nicht zu vergessen als schriftliche Quelle sei der "Vater der Kunstgeschichte", Giorgio Vasari (1511-1574), mit seinen kritischen, wenn nicht sogar denunzierenden Aussagen über den empfindsamen Ausnahmemenschen Leonardo: Dieser habe lieber Philosoph als Christ sein wollen, demzufolge sei er ein Ketzer, und andere Boshaftigkeiten.
"Das Auge der Welt" lautet der Untertitel des reich bebilderten Buches. Hören wir Leonardo persönlich zum Thema: "Das Auge, in dem die Schönheit des Weltalls sich für den Betrachtenden spiegelt, ist von solcher Vorzüglichkeit, dass, wer den Verlust desselben erleidet, sich um die Vorstellung aller Werke der Natur bringt, deren Anschauung die Seele zufrieden sein lässt im Kerker des menschlichen Körpers ... doch wer die Augen verliert, lässt seine Seele in einem finsteren Gefängnis, wo man jede Hoffnung, die Sonne, das Licht der Welt, wiederzusehen, verlieren muss ..." Das bedeutet: Das Sehen und Erfassen, das Lernen durch visuelles Studium stand für den Künstler und Menschen Leonardo an erster Stelle; das ging so weit, dass er systematisch an die 30 Leichen sezierte, um zu erfahren, ja: was die Welt und den Menschen im Innersten zusammenhält. Seine anatomischen Erkenntnisse hielt er in präzisen Zeichnungen von Muskeln, Nerven und Adern fest und fügte seine Beobachtungen denen von Platon, Aristoteles, Galenus und Avicenna hinzu, deren Schriften er besaß. "Göttliche Proportionen" fand er zusammen mit Luca Pacioli, einem Franziskaner, Theologen und Mathematiker, der in seinem Handbuch "Summe der Arithmetik, Geometrie und Proportion" 1494 das mathematische Wissen seiner Zeit für alle Berufe zusammenfasste, die mit Hilfe der Mathematik arbeiteten, und zwar auf Italienisch, nicht auf Lateinisch (was Leonardo im Übrigen nie gelernt hatte; dass der Franziskaner, humanistisch ganz uneingebildet, zum Italienischen griff, hatte dem Autodidakten Leonardo von vornherein angesprochen). Die geometrischen und trigonometrischen Zeichnungen in Paciolis Buch stammen von Leonardo, und er sagt zum Thema: "Niemand möge mich mit meinen Prinzipien lesen, der nicht Mathematiker ist", wobei er im Grunde die Erforschung der Naturgesetze meint, sagt Reinhardt. Für Pacioli waren Zahlen und Körper Spiegelbilder göttlicher Schöpfung und ihrer Harmonie, und Leonardos räumliche Veranschaulichungen geometrischer Körper geben davon Zeugnis von hohem ästhetischem Wert. Die gemeinsame Arbeit an den Körpern führte zum berühmten „Kanon der Proportionen“ (1492) nach Vitruv (wir kennen seinen ideal proportionierten Menschen von der italienischen Ein-Euro-Münze, aus dem Logo von Krankenkassen, Kunstschulen und Fitness-Studios). Leonardo notiert: "Der Architekt Vitruv stellt in seinem Werk zur Architektur fest, dass die Maße des Menschen von der Natur auf folgende Art und Weise aufgeteilt worden sind: Vier Finger bilden eine Handspanne, vier Handspannen einen Fuß, sechs Handspannen eine Elle ... Und vier Ellen machen einen Schritt und 24 Handspannen eine Menschenlänge, und diese Maße gehen in seine Bauwerke ein."

Mit 30 Jahren hatte Leonardo zu schreiben begonnen und im Verlauf von über drei Jahrzehnten einen höchst eigenwilligen Stil entwickelt. Alles, was ihn geistig umtrieb, notierte er: Beobachtungen, Ideen, Betrachtungen, auch Briefentwürfe und tägliche Ausgaben. Nach dem Tode seines Erben Francesco Melzi wurden Leonardos Schriften in halb Europa verstreut, nur ungefähr 6000 Seiten seiner in Spiegelschrift geschriebenen Texte sind erhalten, darunter das mit 1600 Blättern und 1700 Zeichnungen umfangreichste Manuskript, der „Codex Atlanticus“ in Mailand. Ein großes Werk über Anatomie sollte daraus werden - nicht das einzige von Leonardos Vorhaben, das unvollendet blieb. Neben Malerei und Anatomie beschäftigte er sich mit Wissensgebieten, für die man damals noch nicht einmal einen Namen hatte: Mechanik, Optik, Biologie, Botanik, Astronomie, Kartographie, Geographie und Geologie sowie den Anfängen der Aeronautik. Von ihm kann man lernen, was interdisziplinäres Forschen heißt. Auch sind seine Aufzeichnungen nicht nur Beweise intensiver Beobachtung, sondern auch voll Poesie und zeigen seine Ergriffenheit vor der Schöpfung: "Wenn ein Wassertropfen ins Meer fällt, während es still ist, so ist es eine notwendige Folge, dass die ganze Oberfläche des Meeres sich unmerklich hebt.“ Und sie sind Seelenporträts: „Wo mehr Empfindung ist, da ist auch im Leiden größeres Leiden.“

02.11.2018
Daniela Maria Ziegler
Leonardo da Vinci. Das Auge der Welt. Reinhardt, Volker. Gb. 383 S. 111 fb. Abb., 1 Karte. 22 x 14 cm. C.H. Beck Verlag, München 2018. EUR 28,00.
ISBN 978-3-406-72473-2   [C. H. Beck]
 
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