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Schatzkammer der Revolution – Russische Kinderbücher von 1920-1935

Ein Schatz aus der „Schatzkammer der Revolution“. Man merkt sofort auf, angesichts des griffigen Titels. Und dann auch noch dieses: Kinderbücher! Offenbar ist doch tatsächlich der Kunst- und Kulturgeschichte, die sich lange und kontinuierlich mit den avantgardistischen Errungenschaften der frühen Sowjetunion befasst hat, etwas Wichtiges entgangen. Künstler wie El Lissitzky, Daniel Charms, Ossip Mandelstam, Wladimir Majakowski, Lidia Popowa und viele andere mehr haben sich mit der Revolutionierung der pädagogischen Publizistik beschäftigt. Und wie!
Der vorliegende Band bietet ein buntes Kaleidoskop von Auswahlseiten, Titelblättern und Rückseiten dieser wahrhaften Bücherfluten, die dazu angedacht waren, das alte, verrumpelte, obsolete, von Figuren des Klassenfeindes (Prinzen, Prinzessinnen…) bevölkerten Figuren auszumerzen. Von jetzt an brausten LKWs, ratterten Maschinengewehre, flatterten die Fahnen, marschierten die Rotarmisten und grüßten die Pioniere. Natürlich gab es weiterhin Tiere. Und eine Menge Spaß. Denn neben Charms, dem Meister des Absurden, widmete sich vor allem Kornei Tschukowski dem bolschewistischen Kinder-Dada, in Gedichten etwa, in denen Tiere aus aller Welt mit einem Erzähler telefonieren und wilde Bestellungen (etwa von Büchern) aufgeben.
Zehn Kapitel bringen die in den Kinderbüchern verhandelten Aspekte und Themen in eine gewisse Ordnung. Vorangestellt sind jedem Kapitel jeweils knappe Zitate aus der Zeit (aus Erziehungsmanifesten und ähnlichem) oder Erinnerungsfetzen aus der Retrospektive. Mit diesen wenigen Texte, die durch drei allzu miniaturhafte Einleitungsessays ergänzt werden, gelingt es den Herausgebern, dem Leser eine gewisse Skepsis mit auf den Weg zu geben. Denn hinter der vermeintlichen Naivität lauert bereits der Schlund der totalen Diktatur, die sich frühzeitig aufmachte, die Kinder in ihren Bann zu ziehen. Kinder sind Zukunft. Und die Zukunft muß so gestaltet werden, wie die Revolution es erfordert. Von Anfang an. Zu diesem Zweck allein entstanden diese grandiosen Kinderbücher. Daß es also keineswegs um einen reinen ästhetischen Genuß, sondern um politische Instrumentalisierung geht, wird hinlänglich klar – und gerade in diesem enormen Gefälle liegt ja auch das spannende Potential des Ganzen.
Vorbehaltlos möchte der Rezensent den Band aber nicht empfehlen. Denn es gibt vier gewichtige Einwände.
Erstens: Das Buch riecht unangenehm – Printed in China!
Zweitens: Im gesamten Band wird nichts wirklich interpretiert, tiefergehende Analysen, Hintergrundinformationen, Zusammenhänge werden nicht erörtert, auch nicht in einer Zeittafel. Man sieht sich also einer in den Einleitungsessays knapp angeschnittenen Fragestellung gegenüber, über die man in solch einem Band zwingend mehr erfahren möchte.
Drittens: Es gibt keine einzige bibliographische Angabe zu den gezeigten Buchausschnitten. Nicht Verlag, Erscheinungsjahr, Seitenzahl, ganz zu schweigen von Maßen, Techniken, Auflagehöhe oder ggf. deutschen oder anderssprachigen Versionen der Texte.
Viertens: Fast sämtliche der in den Büchern gezeigten Texte sind einzig als Faksimile, d.h. auf russisch wiedergegeben. Und sie bleiben in den knappen Bildunterschriften unübersetzt, obwohl zumeist genug Platz gewesen wäre, die Verse zu übertragen. Damit schrumpft der Wert für all diejenigen Leser, die des Russischen nicht mächtig sind, beträchtlich.
Insofern bleibt am Ende – bei aller Liebe für Bücher und Kunst und allem Verständnis für die Freunde dieser „Schatzkammer“ – ein durchwachsener Eindruck zurück, zumal der Band mit 60 Euro nicht ganz günstig ist.

08.03.2014
Christian Welzbacher
Schatzkammer der Revolution. Russische Kinderbücher von 1920–1935: Bücher aus bewegten Zeiten. Hrsg.: Rothenstein, Julian; Budashevskaya, Olga. 308 S. 30 x 20 cm. Gb.. Lars Müller Verlag, Zürich 2013. EUR 60,00. CHF 75,00
ISBN 978-3-03778-343-6
 
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