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500 Jahre Industriekultur in Sachsen

Mit dem eingängigen Wort „Boom“ hat Sachsen sein Jahr der Industriekultur überschrieben, allerdings nur sehr bedingt nachvollziehbar. Sicher hat Industrieentwicklung etwas mit den „Hoch- und Endphase eines wirtschaftlichen Zyklus“ (S. 14) zu tun, ihr Wesen ist jedoch dauerhaft, wesentlich für die Auseinandersetzung mit Geschichte und Gesellschaft: Industrie prägte und prägt weiterhin entscheidend die Lebenswirklichkeit. Diese Prägungen macht Industriekultur aus und es ist sehr begrüßenswert, dass dies gerade jetzt wieder vermehrt in das öffentliche Bewusstsein rückt, konstant in NRW, 2020 in Sachsen und 2021 als Kulturjahr-Thema in Brandenburg. Leider hatten es Ausstellungen durch die zahlreichen nicht nachvollziehbaren Pandemie-bedingten Einschränkungen sehr schwer. Umso wichtiger sind das Bleibende dieser Ausstellungen, die Kataloge. Der Katalog zur zentralen Ausstellung in einer ehemaligen Audi-Fertigungshalle in Zwickau ist eine gut gestaltete Kombination von Katalog- und Essayband. Unklar ist, ob sämtliche in der Ausstellung gezeigten Objekte abgebildet werden (was bei der Anzahl er Objektabbildungen eher unwahrscheinlich ist) und ob für die „Schauplatzausstellungen“ an sechs Orten in Südwestsachsen (Automobilbau in Zwickau, Maschinenbau und Eisenbahn in Chemnitz, Kohlebergbau in Oelsnitz, Textilindustrie in Crimmitschau, Silberbergbau in Freiberg) eigene Publikationen vorgelegt wurden (was gerade in der Zeit von Museumsschließungen entscheidend wäre). Das Katalogbuch zur Zentralausstellung enthält neben einer hilfreichen Karte zu Orten der Industriekultur in Sachsen im Innenumschlag auch vier höchst interessante aktuelle Interviews zu folgenden Fragen: Was ist Industriekultur? Wie gespalten war Sachsen? Sind die Ostdeutschen Opfer der Treuhand? Warum heißt ein Kunstfestival ibug? Höchst aufschlussreich ist das Gespräch mit Ulrich Borsdorf, dem Gründungsdirektor des neuen Ruhr Museums im Welterbe Zeche Zollverein zum Verständnis von Industriekultur. Borsdorf zeigt auf, dass der Begriff „Industriekultur“ in den 1970er Jahren in Westen Deutschlands aufkam, den Begriff „Arbeiterkultur“ ablöste. Dabei gab es zwei Schwerpunkte im Verständnis, die des Kunsthistorikers Tilmann Buddensieg („Peter Behrens und die AEG“), der die Produkte und Gebäude der Industriezeit als den Kern der Industriekultur definierte, und die des Kulturwissenschaftlers Hermann Glasers, der das Leben und dem Alltag der Arbeiter in der historischen Betrachtung in den Mittelpunkt stellte. Die „Boom“-Zentralausstellung setzt zu sehr auf Kulturgeschichte, wird so der Vielfalt und Bedeutung der sächsischen Industriekultur nicht gerecht. Geschichte und Umnutzung der zahlreichen Denkmale der Industriegeschichte ist kein Thema, nicht einmal Literatur dazu (wie das wichtige Werk von Bernd Sikora: Industriearchitektur in Sachsen – Erhalten durch neue Nutzung) wird benannt. Vielleicht liegt es daran, dass die Lage dieser Industriedenkmale leider sehr besorgniserregend ist. Sikora schreibt in seinem 2010 veröffentlichtem Buch: „...ist der bei Weitem größte Teil sächsischer Industriedenkmalsubstanz inzwischen akut in seiner Existenz gefährdet.“ S. 123).

05.01.2021
Jörg Raach
Boom. 500 Jahre Industriekultur in Sachsen, Thomas Spring; Hrs.: Deutsches Hygiene-Museum Dresden. 384 Seiten, 266 meist farbige Abb., Sandstein Verlag, Dresden 2020, EUR 29,00
ISBN 978-3-95498-544-9
 
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