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Baukunst und Wissenschaft

Es geht um Prägungen. Und damit um eine Kunstgeschichte jenseits des Geniekults: kulturwissenschaftliche, institutions-, wissenschafts- und mentalitätsgeschichtliche Forschung liegt hier vor.
Es geht aber auch um den Staat: wie ein „Apparat“ dazu genutzt werden kann, Ausbildung und Beruf derart zu strukturieren, dass aus der „Zucht“ einer neuen Generation ein Mehrwert für die Gesellschaft insgesamt entsteht.
Anders als heute, wo der (vom gesellschaftlichen Endziel entkoppelte) Ausbildungsbetrieb in sich dazu dient, Statistiken zu bereinigen, Fördermittel zu privatisieren, Menschen hamsterradartig in Beschäftigung zu setzen, haben wir es mit Dirigismus zu tun, einem „starken Staat“ (Preußen), der kameralistische Ökonomik zum obersten Ziel erklärt hat. Es geht um Effizienz und den entsprechenden Einsatz aller Ressourcen (inkl. „Humankapital“).
Christiane Salges großangelegte Studie zur Architektenausbildung in Preußen ist ein Grundlagenwerk, das an zahlreiche Forschung rund um die Edukation von Baumeistern im 18. und 19. (mittlerweile auch im 20.) Jahrhundert anknüpfen kann. Das Buch, hervorgegangen aus einer Habilitation, ist streng systematisch aufgebaut, versehen mit Register, biographischen Anhängen und einem reichen Literaturverzeichnis, ein Band, den man in einer gut bestückten Bibliothek nicht missen möchte.
Salge schaut weit über den Tellerrand, indem sie die preußischen Entwicklungen, die zur Gründung und Blüte der Bauakademie zwischen 1799 und 1825 geführt haben, in einen europäischen Kontext, in die Vorgeschichte und in die zeitgleich in Wien, München und Karlsruhe etablierten Architekturschulen einordnet. Italienische Kunstakademien, dann vor allem das französische Vorbild mit seinen in Paris angesiedelten Zentralinstanzen mochten dem preußischen König vor Augen gestanden haben, als er Ende des 18. Jahrhunderts begann, das im sog. Oberbaudepartment angesiedelte staatliche Bauwesen systematisch neu aufzustellen. Immerhin: der Staat brauchte Architekten – und zwar in Form von Mitarbeitern einer starken Bauverwaltung, die alle Planungen des Landbaus, Siedlungsbaus, der Infrastruktur, aber auch des Hochbaus (worunter Schul-, Verwaltung-, Wohnhausbau usf. fielen) zentral in Berlin steuerte und in Nebenstellen in den jeweiligen Provinzen ausführen und umsetzen ließ. Und für diese starke Bauverwaltung waren gut ausgebildete Beamte nötig.
Salge zeigt auf, was diese Menschen zu lernen hatten. Wie das Studium aufgebaut war. Und welche Idee hinter diesem Studium, hinter der ganzen Ausbildungs-Staats-Beamten-Konstruktion stand. Es ist ein Buch mit vielen Details, bis hin zur Rekonstruktion der Stundenpläne des Curriculums, einzelnen Unterrichtseinheiten zu unterschiedlichen Aspekten (Entwurfslehre, Architekturgeschichte, Ingenieurbau) oder dem Aufbau der Bibliotheken. Und dann verfolgt Salge, was aus einigen der Schüler wurde und wie diese ihr Wissen anwendeten.
Vom genialen Baumeister, der aus sich heraus Wunderwerke schöpft, ist hier nichts zu spüren. Es gibt, der preußischen Ausbildungskonzeption zufolge, nichts, was man nicht lernen könnte – oder umgekehrt: was darüber hinausging war schlichtweg unbrauchbar, da nicht zweckmäßig. Gerade aus heutiger Sicht, da sich der Staat und seine Verwaltung aufgegeben haben, das Ausbildungswesen mit der sog. Bologna-Reform zu einem chaotischen Marktplatz der Wertlosigkeiten verkommen ist, liest sich das Buch faszinierend. Wir lernen etwas über eine ganz andere Form der Gesellschaft, die nicht „Wettbewerb“, also Spaltung und Individualismus, großschrieb, sondern gemeinsame Ziele definierte und einen „Volkskörper“ daraufhin trainierte. Man kann davon halten was man will. Man kann die gemeinsamen Ziele und den „Volkskörper“ als ideologischen Mumpitz verdammen. Aber man kommt nicht umhin, aus dem Wissen um die Vergangenheit auch die Gegenwart neu zu bewerten. Insofern ist Salges Buch nicht nur ein wichtiger Teil zur historischen Forschung, sondern auch ein Diskussionsbeitrag zur aktuellen Lage.

17.01.2022
Christian Welzbacher
Baukunst und Wissenschaft. Architektenausbildung an der Berliner Bauakademie um 1800. Christiane Salge. 496 S.,33 fb. und 46 S/W Abb. 28 x 25 cm. Gebr. Mann Verlag, Berlin 2021. Gb. EUR 79,00
ISBN 978-3-7861-2855-7   [Gebr. Mann Verlag]
 
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