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Race and Modern Architecture

Besucht man Mount Vernon, die rings um George Washingtons ehemalige Residenz errichtete Gedenkstätte außerhalb der amerikanischen Bundeshauptstadt, so kommt man beim Spaziergang durch den Garten an einem ziemlich schäbigen Denkmälchen vorbei, an dem meist ein paar Blumen niedergelegt sind. Es erinnert an die etlichen hundert Sklaven, die der Großfarmer, Unternehmer und Politiker hier beschäftigte. Als Besucher, zumal inmitten des hier inszenierten platten Urväter-Patriotismus, ist man gleich doppelt irritiert. Denn erstens basiert offensichtlich der Erfolg der „greatest nation in the world“ auf der Arbeit von Schwarzen – genauer: auf ihrer Ausbeutung. Und zweitens scheint man das zu wissen, man (wer auch immer genau das ist) schämt sich aber, es offen, kritisch und lösungsorientiert für die Gegenwart zu thematisieren. Das Ergebnis kennen wir.
Wäre es in Europa anders, könnten wir uns entspannt zurücklehnen. Nur leider ist eben jener systemische Rassismus, der zu Amerikas DNS gehört nichts anderes als ein europäisches Erbe.
Immerhin: die Forschung gewinnt aus dem Blick auf historische Zusammenhänge eine neue Perspektive auf ihren Gegenstand. Und so sind die notwendigen kritische Fragen zum Rassismus zu einem Teil der Architekturgeschichte geworden, wie der soeben erschienene Sammelband „Race and Modern Architecture“ eindrucksvoll vorführt.
Warum der Fokus auf „Modern Architecture“? Weil die Autoren zeigen wollen, dass gerade das mit der europäischen Aufklärung verbundene Freiheits- und Befreiungsversprechen engstens mit dem Konzept der Unterdrückung alles nicht-europäischen „Anderen“ verbunden ist und sich auf diese Weise Rassismus in die Tiefenschicht der Kultur (und damit der Architektur) ablagerte, wo man ihn nachweisen kann. Es geht in diesem Band also ans Eingemachte.
Und die Sache ist vielschichtig, wie schon eine wichtige Vorüberlegung der Herausgeber zeigt. Wo mit dem Klassizismus als repräsentativem Staatsstil der USA seit dem 18. Jahrhundert ein Konzept übernommen wurde, das bereits in der Antike auf Sklavenhaltergesellschaft und Exklusion („Barbaren“) basierte, ist die „Tradition“ des Rassismus anscheinend inhärent. Sie muß dann gleichsam nur noch fortschrieben werden, indem man sie auf die „White supremacy“ überträgt. Tatsächlich: diese bittere kulturhistorische These leuchtet ein, zumal sie eine Analogie zur Methode der politischen Ikonographie herstellt, die ja mit dem Konzept von „Bau“ und „Gegenbau“ (Martin Warnke) ebenfalls den Aspekt der Macht in die Architekturgeschichtsschreibung hatte einfließen lassen. Und wenn die Herausgeber dann – anhand zahlreicher Beispiele – offenbaren, dass sich das im Aufklärungszeitalter etablierte Schema auch im 20. Jahrhundert findet, sozusagen „getarnt“ als weiße (!) Moderne, dann steht dem Leser beinahe die Kinnlade offen. Wow! Hier ist es den Herausgebern gelungen, auf einen blinden Fleck aufmerksam zu machen, den man tatsächlich nicht sehen kann, ohne von „außen“, also mit dem Blick des vom Rassismus Betroffenen, auf die Sache geschaut zu haben. „Race and Modern Architecture“ ist daher eine echte Erweiterung der Perspektive, fachlich und politisch gleichermaßen.
Weiterhin war es erklärtes Ziel der Herausgeber, auch den Blick auf das Material zu erweitern. Slums, Arbeitersiedlungen aber auch „andere“ als weiße Architekturen, nämlich indigene Bautraditionen rücken in das Zentrum der Aufmerksamkeit. Hier ließ sich an bereits erfolgte Forschung anknüpfen. Aber auch an Methoden der Sozialwissenschaften, die seit den 1970er Jahren von der Architekturgeschichte übernommen worden waren und vor allem den Klassenstandpunkt in den Blick nahmen, also etwa Wohnungsfragen, Verteilungsaspekte, Finanzierungsmodelle, allgemeiner: Machtfragen und wie sie sich in der gebauten Realität widerspiegeln. Insofern greift „Race and Modern Architecture“ Denkmodelle einer politisch bewegten Wissenschaft auf und erweitert sie um übersehene Aspekte.
Deren Verschränkung zeigt beispielhaft der Autor Kenny Cuspers ausgerechnet an einem deutschen Thema: die preußischen Grenzland-Siedlungen um 1905, mit ihren idealtypischen Bauernhäusern und Dorfformen. Klassismus, Rassismus, Siedlungs- und Kolonialpolitik erscheinen diesen Bauten mit ihren standardisierten Fachwerkformen und Giebeln, den Grundrissen und städtebaulichen Strukturen systematisch einbeschrieben. Und sie wurden dann auch als „Typen“ direkt in die deutschen Kolonien übertragen, wo sie symbolisch wie funktional als Repräsentationsbauten den „weißen“ Vormachtsanspruch verkörperten.
„Race and Modern Architecture“ ist uns also näher, als zunächst geglaubt. Bleibt zu hoffen, der Band wird auch in Europa und Deutschland als Anregung aufgenommen, das Thema beherzt weiter zu erforschen.

03.12.2020
Christian Welzbacher
Race and Modern Architecture. A Critical History from the Enlightenment to the Present. Irene Cheng, Charles L. Davis II. und Mabel O. Wilson (Hrsg.): University of Pittsburgh Press, 435 S., zahlr. Abb., 2020. G. EUR 57,00
ISBN 978-0-8229-6659-3
 
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