|
|
[zurück] |
Marcel Duchamp und die Alten Meister |
Kaum ein Lebenswerk eines Künstlers ist so radikal, grenzsprengend, autoreflexiv, ideensprühend, traditionsinteressiert und im besten Sinne kunstaufklärerisch verlaufen wie dasjenige Marcel Duchamps. Ganz ähnlich wie im Fall von Joseph Beuys müssen sich heutige Kunstinteressierte durch ein wahres Gebirge von Duchamp-Literatur durcharbeiten und gehen dabei das Risiko ein, in der Vielzahl von Katalogen, Aufsätzen und weit verstreuter Sekundärliteratur zu ertrinken. Patricia Bethlens 450seitige Dissertation Marcel Duchamp und die Alten Meister fokussiert sich auf ein Thema, das bisher als Gesamtzusammenhang unerforscht war: sie untersucht nicht nur erstmals die unterschiedlichsten Formen der Rezeption von Bildideen und Motivverwandlungen alter Meister wie etwa Hans Baldung Grien, Albrecht Dürer, Lucas Cranach und Leonardo Da Vinci. Der Autorin gelingt es dabei nicht nur Hauptwerke – etwa „Das große Glas“ und besonders das Spätwerk „Étants Donneés“ – in neuen rezeptionsästhetischen und ideengeschichtlichen Zusammenhängen lebendig zu vermitteln. Im Unterschied zur älteren Duchamp-Forschung interessiert sich die Autorin vor allem auch für eine Art intellektuelle Geschichte der vom Künstler angewandten Strategien mit denen Duchamp es gelang, sein Ideal einer radikal offenen Rezeptions- und Produktionspraxis zu realisieren. Zentrale Leitmotive Duchamps – etwa sein Interesse an den sexuell aufgeladenen oder neoplatonisch inspirierten Schöpfungstheorien oder seine Vorliebe für den verschlüsselt-anspielungsreichen Umgang mit seinen Metaphern und Wortspielen oder der indirekte Umgang mit Motivzitaten und -verwandlungen der Alten Meister verdeutlichen die hohen Ansprüche, die die Autorin gleichzeitig auch ihren LeserInnen abverlangt. Bethlens beeindruckend material- und kenntnisreiche Untersuchung zeigt uns vor allem die Evolutionsgeschichte des genialen Kunsterneuerers: die Ambivalenzen und inneren Spannungen, die den Readymade-Konstrukteur einerseits und den Schöpfer von extrem intellektuellen Kunstgeburts-Fiktionen andererseits vor unseren Augen entstehen lassen. Das Gebären neuer und vielfach rätselhafter Zusammenhänge in evolutionär verfielfachten Leitbildern und Denkbewegungen bildete Duchamps besonderes Interesse. In den meisten Fällen, in denen sich Duchamp ausgewählten Bildmotiven Alter Meister bediente, wird deren meistens sehr subtile Verwendung minutiös rekonstruiert – wie etwa die komplexe Motivgeschichte des absterbenden Arms in „Étant Donneés“ oder die verästelten Spiele mit den Schamgefühlen von Betrachtern. So wie Duchamp selbst ein Leben lang als Experimentator, Schachspieler, Grübler, Kurator, Liebhaber und Dokumentar seiner ureigenen Ideen von Kunst agierte und sich offenbar mit größter Leidenschaft bei ausgesuchten Meisterwerken seiner Vorgänger bediente, indem er sie transformierend in seinen Rezeptionsprozess einschleuste, so liest sich auch dieses Buch: als Leser erfährt man mit welcher großen intellektuellen Frische und kreativen Weltläufigkeit sich Duchamp bemühte, die alten Mythen vom handwerklichen Künstlergenie zu unterwandern und gleichzeitig den Betrachter in unterschiedlichsten geistigen Kontexten zu provozieren; Duchamp, der sich als „unverantwortliches Medium“ bezeichnete, realisierte, so verdeutlicht es dieser (bis auf die teilweise miniaturartig verkleinerten und nicht immer qualitativ überzeugenden Abbildungen) gelungene Band, seine „Kunstgeburten“ aus einem gewagten Ineinander historischer Motivrezeption in einer äußerst zeitgenössischen, die Kunst vielfach zitierenden als auch überwindenden Art und Weise zu präsentieren. Der Leser erlebt jedenfalls diese inspirierende, wenngleich auch nicht immer mühelos zu lesende Ideenreise durch „Marcel Duchamp und die Alten Meister“ wie eine Verlebendigung der eigenen Rezeptionskraft. Oder mit dem Wort des Neuen Meisters gesprochen: „Dieser (Betrachter) sieht, was der Künstler nicht sieht – oder zu sehen glaubt, was der Künstler nicht sieht.“ (Marcel Duchamp, zit.n. P. Bethlen, S. 115)
18.12.2020 |
Micheal Kröger |
Marcel Duchamp und die Alten Meister. Zu den Vorbildern des radikalen Kunsterneuerers. Bethlen, Patricia. 446 S. 92 fb. Abb. 48 SW-Abb. 24 x 16 cm. Kt. Deutsch. Transcript Verlag, Bielefeld 2020. EUR 45,00. CHF 54,90 |
ISBN 978-3-8376-5366-3
|
|
|
|
|
|