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Marcel Proust und die KĂŒnste |
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Der Schriftsteller Marcel Proust (1871-1922) entwarf, neben Sachtexten zur Kunst, mit seinem literarischen Bucherstling âLes plaisirs et les joursâ (1896) (âFreuden und Tageâ) beginnend, eine Reihe literarischer Werke mit KunstbezĂŒgen. Aus dem Proustschen Werkmassiv ragt der siebenteilige Romanzyklus âAuf der Suche nach der verlorenen Zeitâ heraus. Dieses Werk wird allgemein, den französischen Titel âĂ la recherche du temps perduâ abkĂŒrzend, auch als âRechercheâ bezeichnet. Dieser Zyklus gehört zu den groĂen Werken der literarischen Moderne. Die KĂŒnste spielen darin, in VerknĂŒpfung mit den, die âRechercheâ bestimmenden, Themen Zeit und Erinnerung, eine groĂe Rolle. Aufgerufen werden die bauenden, bildenden und darstellenden KĂŒnste ebenso wie Kunsthandwerk, die angewandten KĂŒnste, Musik und Literatur. Da raum- und zeitĂŒbergreifend alle Kunstepochen, Stile und kĂŒnstlerische Techniken aufgerufen werden, liegt ein Roman enzyklopĂ€discher PrĂ€gung vor. Aufgerufen wird jedoch nicht nur Kunstgeschichliches, sondern die âRechercheâ enthĂ€lt ebenso Reflexionen zu Ă€sthetischen und wahrnehmungstheoretischen Fragen wie auch KĂŒnstlergeschichten und eine KĂŒnstlerlegende, da die Hauptfigur des Romans, Marcel, am Ende des Romans Schriftsteller wird. Proust behandelt alle Dimension der Kunst. Auf der Ebene der Produktion geht es um die Ausbildung der KĂŒnstler in Akademien oder privaten Malschulen und es geht um die ArbeitsplĂ€tze der KĂŒnstler in Ateliers oder im Freien. Im Bereich der Vermittlung hat Proust Kunstkritisches und Publikationsorgane wie Zeitschriften und KunstbĂŒcher, aber auch Museen, Galerien und Sammler im Blick. Diese Aspekte behandelt Proust in verschiedenen Texten, konzentriert jedoch in der âRechercheâ, in der auch Fragen zur PrĂ€sentation und Rezeption von Kunstwerken und Kunstsoziologisches angesprochen werden.
Allein die âRechercheâ einem breiten Publikum vorzustellen, sah Walter Benjamin (1892-1940) als schwierig an. Nicht minder kompliziert ist es, neben Prousts Leben, auch sein Gesamtwerk vorzustellen, zumal in lexikalischer Form. Ein solches Unternehmen wagten 2004 in Frankreich Annick Bouillaguet (o.A.) und Brian G.Rogers (o.A.) mit dem âDictionnaire Marcel Proustâ. Mit von der Partie war Luzius Keller (*1938), emeritierter Professor fĂŒr Geschichte der Französischen Literatur von der Renaissance bis zur Gegenwart vom Romanischen Seminar der UniversitĂ€t ZĂŒrich, der fĂŒr die deutsche Ausgabe, die unter dem Titel âMarcel Proust EnzyklopĂ€dieâ 2009 beim Verlag Hoffmann & Campe erschien, verantwortlich zeichnet. In der editorischen Notiz macht Keller Angaben zur Ăberarbeitung der französischen Ausgabe. So wurden, in der folgend mit âMPEâ abgekĂŒrzten EnzyklopĂ€die einzelne Artikel gekĂŒrzt, neue Artikel eingefĂŒgt und neuere Forschungsliteratur berĂŒcksichtigt. Welche genau dies sind wird allerdings nicht genannt.
MPE 1: Ăberblick
In einer Vielzahl alphabetisch geordneter Artikel behandeln 40 Autoren, Leben, Werk, Wirkung und Deutung Prousts. Die Namen der Autoren werden in der Besprechung in Klammern und Stichwörter der MPE in AnfĂŒhrungszeichen (â...â) gesetzt. Nach AusfĂŒhrungen zum Aufbau der MPE werden aus dem Spektrum der Stichwörter diejenigen mit Bezug zu den KĂŒnsten bzw. innerhalb dieser mit Bezug auf die bildende Kunst nĂ€her vorgestellt. Mit âKunstâ wird das System der KĂŒnste, eine Stilrichtung oder die Kunst eines bestimmten KĂŒnstlers bezeichnet. Ansonsten wird von bildender Kunst bzw. Kunstwerk auĂerhalb von Zitaten gesprochen. Werke der Schönen Literatur werden als Literatur bezeichnet.
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Das Gewicht der Kunst in Prousts Leben und Werk schlĂ€gt sich in der MPE in der Anzahl der Artikel nieder. Deren alphabetische Ordnung wird durch ein kluges System von Querverweisen ergĂ€nzt, das systematischen Aspekten Rechnung trĂ€gt. Als zwei systematische TeilstĂŒcke können die Stichwortgruppen âProust-Kritikâ und âProust-Rezeptionâ angesehen werden, die es erlauben, sich umfassend und konzentriert an einer Stelle zu den jeweils interessierenden Aspekten einen Ăberblick zu verschaffen.
Selbstredend behandelt die MPE Prousts literarisches und poetisches Repertoire. Dies tut sie entweder unter einem eigenen Stichwort oder innerhalb von anderen Stichworten. Dieser Aspekt wird jedoch, um der Ăbersichtlichkeit willen, in der Rezension nicht gesondert beleuchtet. Dies unterbleibt auch im Hinblick auf jene Stichwörter, die eine Zusammenfassung von Werken Prousts bieten und daher bestens als LektĂŒreeinstiege geeignet sind. In Bezug auf Struktur und Umfang her beschreiten die Artikel einen Mittelweg in der ĂberfĂŒhrung des Proustschen Netzwerks zirkulierender Konstellationen von Relationen, auch im Hinblick auf das VerhĂ€ltnis von Realem und Imaginativem in den literarischen Werken, in eine Ordnung, die die KomplexitĂ€t dieses Gezweigs einerseits reduziert, es andererseits aber hinreichend differenziert auffĂ€chert, um Prousts Reichtum in der Beherrschung formaler und inhaltlicher Möglichkeiten zu zeigen und ihn damit als einen der groĂen Autoren und Kunstkenner kenntlich zu machen.
Das Moment der Differenzierung tritt z.B. in jenen Passagen der Artikel in der MPE deutlich zu Tage, die der Darstellung Proustscher Begrifflichkeit gelten. Ein hervorragendes Beispiel bietet der Artikel der BeitrĂ€gerin Anne Simon. Sie arbeitet heraus, dass der Begriff âWirklichkeitâ von Proust mit zwei Bedeutungen belegt wurde. Zielt die erste auf die âobjektiv konstatierbare Existenzâ so betont er mit der zweiten das ârelationale Moment des Begriffs.â Fortgesetzt wird diese Akribie in den deutenden Passagen der Artikel, die zudem, bezogen auf die Kunst, Prousts Vielfachverweise etwa auf reale und fiktive KĂŒnstler in seinen Werken, nicht nur aufspĂŒren, sondern auch handwerklich akkurat durch Klammersetzung und Nennung der Seitenzahlen belegen.
Das vorzĂŒgliche Ordnungssystem der MPE setzt sich in einem weiteren Detail fort. So fĂŒhrt die MPE zu einigen Stichwörtern römische Ziffern mit sich, die insbesondere in den Artikeln zu den KĂŒnsten vorkommen. Setzt sich Proust mit den KĂŒnsten auseinander, so erhalten die Stichwörter âIâ, setzen sich KĂŒnstler mit Proust in verschiedenen Medien auseinander, so erhalten diese Stichwörter âIIâ. Die ordnende Hand Kellers ist auch in den einzelnen Artikeln spĂŒrbar. So gelang es ihm, trotz der Vielzahl der Autoren mit je eigenem Schreibstil, ein hohes MaĂ an stilistischer HomogenitĂ€t herzustellen. UnabhĂ€ngig davon, welche Seite der Leser in der MPE aufschlĂ€gt, stets trifft er auf groĂe Sorgfalt, auf einen sachlichen Ton und prĂ€zise Aussagen. Dies gilt fĂŒr alle Autoren gleichermaĂen, die ihr groĂes Wissen klar strukturiert und allgemeinverstĂ€ndlich formuliert, ausbreiten.
Auf den enzyklopĂ€dischen Teil in der MPE folgt ein umfĂ€nglicher Apparat. Er enthĂ€lt ein Verzeichnis der Autoren und der Stichwörter. Im Stichwortverzeichnis werden die Namen der Autoren in Klammersetzung genannt. Im Apparat befindet sich ferner eine umfĂ€ngliche Bibliographie, so dass die, am Ende von Artikeln genannten kurzen Hinweise auf SekundĂ€rliteratur leicht nachgeschlagen werden können. Analog dieses Verfahrens lassen sich, durch das sich im Apparat befindliche Verzeichnis der AbkĂŒrzungen fĂŒr die, in den einzelnen Artikeln in AbkĂŒrzungen nebst Seitenzahlverweisen aufgerufenen, Werke von Proust und anderer Autoren rasch nachschlagen.
Neben literarischen und Sachtexten zur Kunst wird in der MPE auch auf das umfangreiche Briefwerk Prousts eingegangen. Dieses gilt insbesondere fĂŒr Forscher als wichtige Quelle, um Leben und Werk von Proust zu kontextualisieren und BezĂŒge zu ermitteln. Dies gilt insbesondere fĂŒr den Mehrfachzusammenhang von Leben und Kunst. Vorgestellt wird Proust als Kunstkenner und als Ăbersetzer. Geschildert werden ferner Prousts persönliche Begegnungen mit KĂŒnstlern, Kunstkritikern und Kunstsammlern seiner Zeit. Behandelt werden ferner Abbildungen von Proust in Malerei und Photographie sowie Bearbeitungen seiner Werke in verschiedenen Medien und es wird auf PrĂ€sentationen von Leben und Werk Prousts in Ausstellungen eingegangen. Auch Prousts Schreibprozess ist Untersuchungsgegenstand und er tritt als Zeichner auf.
Relativ groĂes Gewicht legt die MPE darauf, die Austauschbeziehungen, seien sie interikonischer, intermedialer, interkultureller und intertextueller Natur, darzustellen und den Leser fĂŒr diesen Sachverhalt sowohl grundsĂ€tzlich als auch an Beispielen demonstriert, zu sensibilisieren. Ein Musterbeispiel dazu findet sich in Kazuyoshi Yoshikawas AusfĂŒhrungen in âMalerei Iâ in der eine Szene aus dem ersten Teil der âRechercheâ aufrufen wird. Es geht um die musikalische AuffĂŒhrung der â>petite phrase<â aus der Geigensonate von Vinteuil. Diese, so Yoshikawa, werde in einem Raum aufgefĂŒhrt, der âPieter de Hooch nachgebildetâ sei. SchlĂ€gt man nun den Artikel zum hollĂ€ndischen Maler âPieter de Hoochâ (1629-1648) auf, so findet sich dort dieser Bezug auf Vinteuil wieder (Eells). Die QualitĂ€t der MPE zeigt sich auch darin, dass die BezĂŒge der Artikel untereinander nicht nur ĂŒber das Querverweissystem zustande kommen, sondern dass die MPE als groĂer Intertext konzipiert wurde. Dessen Dirigent ist Keller und die Autoren treten als groĂer vielstimmiger Chor auf.
MPE 2: Proust und die KĂŒnste
Als Einstieg zum Thema Proust und die KĂŒnste bietet sich der Artikel âKunstâ an. In diesem erfĂ€hrt man, dass die Kunst 20 % Prozent des Textumfangs beanspruche (Jean-Marc Quaranta). Den Hauptteil wiederum bestreiten Malerei, Musik und schöne Literatur, mithin jene KĂŒnste, denen Proust im Roman eine fiktive Figur beigibt: âVinteuilâ (Musik), âBergotteâ (Literatur) und âElstirâ (Malerei) (Françoise Leriche, Juliette Hassine, Yoshikawa).
Mit eigenen Stichwörtern wurden âMalerei I, Architektur, Film I, Theater I, Musik, Mode, Tapisserie, Mosaikâ und âSkulpturâ bedacht (Yoshikawa, Henrot, Jeanyves GuĂ©rin, Leriche, JĂ©rĂŽme Picon, Picon, Anne Chevalier, Beretta Anguissola). Einige KĂŒnste, wie Tanz, Glaskunst und Literatur haben kein eigenes Stichwort und kommen ĂŒber bestimmte Formen, so der Tanz ĂŒber âBallettâ, die Glaskunst ĂŒber âKirchenfensterâ und einem ihrer Vertreter, âĂmile GallĂ©â (1846-1904), zu eigenen Stichwörtern und es wird weiter differenziert (Jo Yoshida, Picon, Leriche). So gibt es zur âOperâ, zum âKonzertâ, zur âStatueâ, zur âKathedraleâ als Bauform und zu einzelnen wie âAmiensâ, âBayeuxâ, âChartresâ oder âRouen IIâ eigene Artikel (Leriche, Leriche, Mauriac Dyer, Diane Leonard, Leonard).
Kunstepochen sind unter den Stichwörtern âAntike, Mittelalter, Renaissanceâ prĂ€sent (Marie Miguet-Ollagnier, Richard Bales, Keller). Andere Epochen wiederum werden durch einzelne KĂŒnstler reprĂ€sentiert. Die moderne Bildende Kunst und Literatur wird unter den Lemmata âJugendstil, Futurismus, Kubismus, Impressionismus, Naturalismus, PrĂ€raffaelismus, Gesellschaftsmalerei, Symbolismus, Dekadentismus und Realismusâ behandelt (Leriche, Quaranta, Keller, Yoshikawa, Pierre-Louis Rey, Eells, Yoshikawa, Rey, Leriche, Rey). Insbesondere in den drei Bereichen Musik, schöne Literatur und Malerei erfolgt die ErschlieĂung auch ĂŒber die Namen von KĂŒnstlern, ĂŒber Titel einzelner Kunstwerke, Genres oder Schulen und in einigen FĂ€llen auch ĂŒber Interpreten.
Der MPE gelingt es den Gegenstandsbereich Kunstgeschichte, nicht in all seinen Facetten, so doch sehr gut abzubilden. Die BezĂŒge in der âRechercheâ aber auch in anderen Texten Prousts auf auĂereuropĂ€ische Kulturen und KĂŒnste aus Persien, dem Orient oder Japan oder auf chinesisches Porzellan und assyrische Bilder kommen ĂŒber âArchĂ€ologie, Tausendundeine Nacht, Japonismusâ zur Geltung (Anguissola, Francine Gaujon, Yoshida). BezĂŒge auf KĂŒnste aus vorchristlicher Zeitrechnung werden durch Stichwörter so etwa zur âAntike, Mythologieâ und zu âPompejiâ reprĂ€sentiert (Miguet-Ollagnier, Miguet-Ollagnier, Anguissola).
MPE 3: Prousts Interesse an Kunstwerken / Dimensionen der Kunst
Proust behandelt, wie bereits erwĂ€hnt, alle Dimension der Kunst. Als Einstieg in diese ZusammenhĂ€nge bietet sich wiederum der Artikel âKunstâ an, in dem z.B. davon die Rede ist, dass jede Figur in der âRechercheâ eine eigene Einstellung zur Kunst habe (Quaranta). Da Proust die âRechercheâ als ein Buch allgemeiner Verwandlungen, dem jedes Element unterworfen ist, konzipierte, verĂ€ndern sich auch die Standpunkte der Figuren zu den KĂŒnsten ebenso wie Zivilisation und Gesellschaft und Prousts eigene Auffassung zu diesem oder jenem KĂŒnstler, Kunstwerk oder zu den darĂŒber Schreibenden im Lauf im Lauf der Zeit. Recherchierbar ist dieser Aspekt ĂŒber eine Vielzahl von Artikeln etwa zu bestimmten KĂŒnstlern. Die MPE schĂŒttet zu diesem Aspekt geradezu ein FĂŒllhorn aus und markiert genau das verĂ€ndernde Moment bzw. den Zeitpunkt und die StĂ€rke der VerĂ€nderung bzw. die sich verĂ€ndernden Bewertungen Prousts zu diesem oder jenem Sachverhalt.
In Bezug auf die Figuren, die etwa in der âRechercheâ auftreten, verzeichnet Proust fast schon kunstsoziologisch disponiert, Stellungnahmen zur Kunst. Diesen Aspekt greift Quaranta auf und spricht davon, Proust habe sich auch mit den âsozialen Implikationenâ der Kunst befasst. Dementsprechend wird man unter den Stichwörtern zu Figuren oder sozialen Gruppen, so etwa zu âAdel I / IIâ fĂŒndig (Brian G.Rogers, Leriche). Insbesondere einige Vertreter des Adels haben es Proust insofern angetan, da er seine Rede von deren âdĂŒnner Kulturdeckeâ an einigen Beispielen z.B. in Form köstlicher Wortspiele vorfĂŒhrt.
Auch zur âĂsthetikâ finden sich Hinweise in einer Reihe von Artikeln, in denen sowohl Prousts Auseinandersetzung mit Positionen philosophischer Ăsthetik als auch, in Auseinandersetzung mit weiteren kunstkritischen Schriften und der Ăsthetik kĂŒnstlerischer Bewegungen seiner Zeit, dargestellt wird. DieAusfĂŒhrungen dazu finden sich in EintrĂ€gen zu einzelnen KĂŒnstlern, Titeln von Kunstwerken, kunsthistorischen Schriften von Autoren und Stilen bzw. Epochen, aber auch in âMosaikâ und im Artikel âImmanuel Kantâ (1724-1804) (Chevalier, Henry). Ein anschauliches Beispiel fĂŒr eine Wandlung in Prousts Kunstauffassung liefert in âKunstâ der BeitrĂ€ger Quaranta. Proust, der sich an die Kunstauffassung von âJohn Ruskinâ angelehnte, habe sich, so der BeitrĂ€ger, mit seiner Schrift âSur la lectureâ (1905) teilweise von dieser abgesetzt.
In Bezug auf Kunstwerke interessiert sich Proust sowohl fĂŒr formale Mittel, als auch fĂŒr das Dargestellte bzw. Gezeigte. SchlĂ€gt man z.B. das Stichwort âChardin, Jean-Baptisteâ (1699-1779) auf, so wird thematisiert, dass Chardin Proust gezeigt habe, dass auch unbedeutende GegenstĂ€nde âschön sein könnenâ (Yoshikawa). Dieser Aspekt, die Darstellung von AlltĂ€glichem, beschĂ€ftigte Proust auch in Bezug auf Debatten zur âHierarchieâ der KĂŒnste, die Mitte des 19. Jahrhunderts erneut, ausgelöst durch den impressionistischen Sturm auf die ideellen Bastionen der vorherrschenden akademischen Malerei, aufflammte. Der Bezug auf Chardin ist auch im Hinblick auf âHierarchieâ gegeben, da Chardin nicht in der hoch angesehen Gattung des Historienbildes, sondern in der âkleinenâ Gattung des Stilllebens hohes Ansehen erwarb (Hughes). Auch dieser Aspekt lĂ€Ăt sich unter verschiedenen Stichwörtern, so etwa zu âĂmile Zolaâ (1840-1902) vertiefen (Hughes/Keller). So fĂŒhren die BeitrĂ€ger aus, dass sich Proust âsowohl in âJean Santeuilâ als auch in der Recherche zu einer solchen Poetik der einfachen Dingeâ bekannt habe.
Im Falle von âClaude Monet(s)â (1840-1926) GemĂ€ldeserien, so Keller in einer Sequenz seines Artikels, lag Prousts Interesse auf dem Aspekt der Darstellung von Zeit und am âKubismusâ interessierte ihn die SimultanitĂ€t verschiedener Perspektiven bei der Darstellung von Objekten bzw. am âFuturismusâ dessen âbewegte PolyperspektivitĂ€tâ (Keller, Quaranta).
Auch der Darstellung lebensweltlicher BezĂŒge, aus denen heraus Prousts Interesse an bestimmten KĂŒnsten, KĂŒnstlern oder Kunstwerken erklĂ€rt werden kann, widmet sich die MPE akribisch, wie etwa unter âTapisserieâ. In diesem Artikel erwĂ€hnt der BeitrĂ€ger, Picon, u.a. âGobelinsâ, die Proust von seinen Eltern geerbt habe und dass sich eine Erinnerung an diese in âJean Santeuilâ befinde. Die AusfĂŒhrungen Picons enden mit den Hinweis auf Prousts Vorwort zu dem Buch âTendres Stocksâ des Schriftstellers âPaul Morandâ (1888-1976) und dem Verweis auf eine Textpassage Prousts in der âRechercheâ, die âbeinahe identischâ mit jener des erwĂ€hnten Vorworts sei.
Wie es um Prousts Sachkunde steht, wird an verschiedenen Stellen in der MPE ausgebreitet. Eine solche findet sich unter âMusik Iâ, in dem zugleich das VerhĂ€ltnis von Malerei und Musik thematisiert wird. Zwar behalte die Malerei in der âRechercheâ die Oberhand, in Bezug auf Prousts Gesamtwerk, dazu wird auch dessen umfangreicher Briefwechsel gezĂ€hlt, Ă€ndere sich, so die BeitrĂ€gerin, das VerhĂ€ltnis, da sich âProust hĂ€ufiger und sachkundiger auf Musik....als auf Malereiâ bezogen habe (Leriche). Auf die Bedeutung des Briefwechsels, um AuskĂŒnfte zu Prousts Leben und Werk, insbesondere auch zu Fragen der EinschĂ€tzung von Prousts kulturellem Sachverstand zu erhalten, wird auch in âKorrespondenz Iâ hingewiesen, wobei diese âProusts umfassende Kenntnis in kulturellen Belangenâ, so der BeitrĂ€ger Yoshikawa, bezeuge.
4: Proust als Kunstkenner, Ăbersetzer und Autor von Texten zur Kunst / KĂŒnstlerbegegnungen
Auch zu Fragen nach den Quellen von Prousts Kunstkenntnissen berÀt die MPE in gewohnter Manier in zahlreichen Stichworten, die sich in vier Abteilungen zusammenfassen lassen.
In der Abteilung I erfolgt ein Gang zu den Stichworten âAusstellungen, Galerie Georges Petit, Malerei I, Museen, Louvreâ. Zur weiteren Erkundung stehen die bereits erwĂ€hnten Stichwörter âKathedralenâ und die namentlich gefĂŒhrten Kathedralen und das Stichwort âAutomobilâ, âReisenâ oder âHollandâ bereit (Keller, Picon, Yoshikawa, Picon, Picon, Isabelle Serça, Miguet-Ollagnier, Brun).
Von Bedeutung waren auch II: persönliche GesprĂ€che mit Freunden und Bekannten. Zu diesem Aspekt liegen Stichwörter wie âSalonsâ bereit. Zu verschiedenen Salons, in denen ĂŒber Kunst und Ausstellungen gesprochen wurde, hatte Proust, dank gesellschaftlicher Beziehungen, Zugang (Bernard Brun). Auch ĂŒber personenenbezogene Stichwörter, wie etwa zu âRobert Comte de Montesquiou-Fezensacâ (1855-1921), der in den âexklusivsten Salonsâ verkehrte, kann dieser Aspekt vertieft werden, da Proust ĂŒber Montesquiou, der als Vorbild fĂŒr die Figur des Baron de Charlus in der âRechercheâ diente und unter âCharlus Iâ gefĂŒhrt wird, mit Gesellschaftsmalern bekannt wurde, die unter âGesellschaftsmalereiâ besprochen wurden (Keller, Hughes, Yoshikawa).
Weitere Maler, wie etwa âMonetâ, âGustave Moreauâ (1826-1898) oder âAuguste Renoirâ (1841-1919) lernte Proust in Salons persönlich kennen (Keller, Yoshikawa, Keller). Unter fĂŒnf Stichwörtern werden die jeweiligen Salons vorgestellt (Brun, Keller, drei: Hassine/Keller). Etwas zu wenig beleuchtet wird die Rolle des Kunstkritikers und Schriftstellers Octave Mirbeau (1848-1917), einen visionĂ€ren Förderer kĂŒnftiger kĂŒnstlerischer GröĂen wie des Komponisten âClaude Debussyâ (1862-1918) (Leriche). Mirbeau war es auch, so der Mirbeau-Ăbersetzer Wieland Grommes (o.A.) in seiner Anmerkung zu dessen Roman âNie wieder Höhenluft oder Die 21 Tage eines Neurasthenikersâ (âLes 21 jours dâun neurasthĂ©niqueâ, 1901), der als âerster auf die Bedeutung des Belgiers âMaurice Maeterlinckâ (1862-1949) aufmerksam machteâ, der von Proust in âSĂ©same et les lysâ als âflandrischer Vergilâ bezeichnet wird und der, so die BeitrĂ€gerin Simon, ĂŒber manche Irritation hinweg, fĂŒr Proust âeine positive Referenzâ blieb.
Nach Prousts eigenen Kriterien, die in âTage des Lesensâ erwĂ€hnt werden, ist Mirbeau ein Kritiker mit âScharfsinnâ, einer, der seiner Zeit vorauseilt und auf nicht âdurch das Publikum erprobt(e)â KĂŒnstler hinweist (âTage des Lesensâ, Suhrkamp Verlag, 1978, S. 37 / 58). Proust erwies Mirbeau ĂŒberdies in einer langen Passage im vierten Teil der âRechercheâ seine Reverenz und lĂ€Ăt dessen Roman in einem seiner Textbilder sprechen. SelbstverstĂ€ndlich verarbeitete Proust diese Begegnungen in den Salons auch literarisch. Insbesondere in der âRechercheâ wird unentwegt ĂŒber KĂŒnstler, Kunstwerke und Ausstellungen in den verschiedenen Salons gesprochen und verschiedene Figuren sammeln und / oder schreiben ĂŒber Kunstwerke.
Als eine weitere Quelle fĂŒr den Erwerb von Kunstkenntnissen gilt III: Prousts Mitarbeit in Zeitschriften. Bereits seit seiner Schulzeit, als er auf dem LycĂ©e Condorcet âRobert Dreyfusâ (1873-1939), begegnete, schrieb Proust fĂŒr Zeitschriften, so in der 1887 mit Dreyfus und âFernand Greghâ (1873-1960) gegrĂŒndeten Zeitschrift â (Le)Lundiâ (Henrot, Henrot, Picon). Dieser folgten weitere Zeitschriftenprojekte wie â(La) Revue de secondeâ, â(La) Revue verteâ, â(La) Revue lilasâ und â(Le) Banquetâ, allesamt Objekte, die als handschriftlich kopierte Exemplare erschienen (alle: Picon). Nachdem, so im Beitrag â(La) Revue blancheâ, die letzte Nummer von Le Banquet erschienen war, fanden Proust und seine Freunde Aufnahme in der Revue blanche (Keller). Ăber die Mitarbeit an dieser, so auch unter âJugendstilâ, sei Proust, im Unterschied zu âimpressionistischen Malern, denen er eher selten begegnet sei, âmit einigen Vertretern des französischen Jugendstils gut bekanntâ gewesen (Keller). Der Jugendstil wird in diesem Artikel nicht nur ausfĂŒhrlich dargestellt, sondern thematisiert wird auch dessen Einfluss auf Prousts âsynthetisierende Kompositionsweiseâ.
HauptsĂ€chlich jedoch erwarb Proust Kenntnisse zur Kunst durch IV: ausgedehnte LektĂŒre von Zeitschriften und BĂŒchern zur Kunst. Es finden sich daher dazu EintrĂ€ge unter verschiedenen Stichwörtern, so etwa zum schreibenden Maler âEugĂšne Fromentinâ (1820-1876). In der âRechercheâ werden sowohl einige seiner Tafelbilder, als auch dessen Roman âDominiqueâ (1863) und seine Studie zur niederlĂ€ndischen Malerei âLes MaĂźtres dâautrefoisâ (1876) (Alte Meister, 1998, Verlag DuMont) erwĂ€hnt, die Proust rezipiert hat. Auch an diesem Artikel lĂ€Ăt sich gut die in der MPE waltende Akribie demonstrieren. So widerlegt die BeitrĂ€gerin Hassine Prousts Auffassung, Fromentin habe in seiner Studie âVermeer >nicht einmal erwĂ€hnt<â. TatsĂ€chlich wird der fĂŒr die âRechercheâ so bedeutsame âVermeer van Delft, Johannes Vermeer gen.â (1632-1675) von Fromentin den an drei Stellen seiner Schrift unter der Bezeichnung âVan der Meerâ (S. 131, 143) bzw. âVan der Meer van Delftâ (S. 162) erwĂ€hnt.
In Auseinandersetzung mit dieser und anderen Schriften vertiefte Proust seine Kenntnisse und entwickelte eigene Ă€sthetische Vorstellungen. In gewohnter QualitĂ€t stellen verschiedene BeitrĂ€ger diesen Aspekt dar, ob es sich um Prousts Auseinandersetzung mit der Kunstauffassung von bildenden KĂŒnstlern, Literaten wie Montesquiou oder Komponisten wie âRichard Wagnerâ (1813-1883) handelt. Im Falle der Musik Wagners schlagen die BeitrĂ€ger Keller/Leriche wiederum den Bogen zur âRechercheâ und halten fest, dass eine Ăhnlichkeit auf âformaler und stilistischer Ebeneâ mit dem âWagnerschen Kontinuumâ bestehe.
Zwei weitere wichtige Quellen erschlieĂt die MPE mit Hinweisen auf den Kunsthistoriker âĂmile MĂąleâ (1862-1954) und unter âGoncourt I und IIâ auf die BrĂŒder Edmond (1822-1896) und Jules de Goncourt (1830-1879) (Rey, Bouillaguet/Keller, Keller). Bezogen auf MĂąle, der ein grundlegendes Werk zur christlichen Kunst des 13. Jahrhunderts in Frankreich schrieb, fĂŒhrt Rey aus, dass die LektĂŒre MĂąles, Proust dazu verhalf âseine Kenntnisse auf dem Gebiet der Architektur und der mittelalterlichen Ikonographie zu vertiefenâ. MĂąle, mit dem Proust korrespondierte, riet ihm, nicht die Kathedralen der Bretagne, sondern die der Normandie besuchen. Um zu erfahren, zu welchem Zeitpunkt Proust welche Kathedrale besuchte / nicht besuchte und welche in seinen literarischen Werken rein fiktiv sind, gilt es zu den erwĂ€hnten Stichwörtern, die Kathedralen betreffend, zurĂŒckzukehren.
In die Zeit Prousts fĂ€llt der Tod des von ihm verehrten Kunstkritikers âJohn Ruskinâ (1819-1900) (Leonard). Durch LektĂŒre von dessen Schriften sei, so die BeitrĂ€gerin, Prousts Interesse an der prĂ€raffaelitischen Malerei geweckt worden (Stichwort: âPrĂ€raffaelismusâ: Eells). Auch im Beitrag zu Ruskin, in dem ausfĂŒhrlich dessen Ă€sthetische Ăberzeugungen vorstellt werden, ehe zu Prousts Beziehung zur Ruskin referiert wird und danach Forschungsergebnisse zu letzterem Aspekt vorgestellt werden, finden sich weitere, fĂŒr die Thematik relevante Hinweise. So wird die Bedeutung Ruskins fĂŒr Prousts Interesse am Kunsthandwerk herausgestellt, da Ruskin, als einer der Stichwortgeber der Artsâand-Crafts-Bewegung gilt und zu Prousts WertschĂ€tzung von âWilliam Morrisâ (1834-1896) fĂŒhrte (Eells). Zu Ruskins Tod verfasste Proust einen Nachruf und eine groĂe Studie âRuskin Ă Notre-Dame dâAmiensâ, die er als Material fĂŒr sein umfĂ€ngliches Vorwort zu âRuskins âThe Bible of Amiensâ verwendete. Dieses Werk ĂŒbersetzte Proust, der sich dabei helfen lassen musste, ebenso wie Ruskins âSesame and Liliesâ. Beide Werke erhalten unter ihren französischen Titeln eigene Stichwörter (Leonard).
Betrachtet man alle Artikel zu diesem Aspekt, so ergibt sich ein guter Ăberblick zu Prousts literarischer und Ă€sthetischer Entwicklung, die mit seinem Erstlingswerk, âPortrĂ€ts von Malernâ, abgedruckt in âFreuden und Tageâ, einsetzt. Diesen Text lĂ€Ăt Keller als âKunstkritikâ âim weiteren Sinnâ gelten.
MPE 5: Sehen / Wahrnehmung / Erinnerungen / optische GerÀte
Vielfach wurde auf den konstitutiven Zusammenhang von Kunst und Erinnerung, Erfahrung und Sinneswahrnehmungen in Prousts Leben und Werk, insbesondere auch in der âRechercheâ, abgehoben. Gerade hinsichtlich dieser schwierig zu vermittelnden Aspekte der âRechercheâ, zeigt sich das Querverweissystem von seiner besten Seite: âErfahrungâ verweist auf âErinnerungâ und diese auf âSinneswahrnehmungenâ. Von dort gelangt man zu âImpressionâ und âLaterna Magicaâ (Anne Simon, Anne Henry, Julia Kristeva, Leonard, Serça). In letzterer sieht Serça âein Symbol fĂŒr Prousts Werkâ. So wĂŒrden die von der Laterna magica an die âWand des Zimmers projizierten Bilder aus historischer Vergangenheitâ an âdie verworrenen, ineinanderkreisenden Erinnerungsbilder der persönlichen Vergangenheit<â erinnern. Die Laterna magica wiederum stehe, so die BeitrĂ€gerin Serça, im Zusammenhang mit âweiteren optischen Instrumenten der Rechercheâ, âinsbesondere jenen, wie Kinestoskop und âKaleidoskopâ die die âDimensionen der Zeit sichtbar werdenâ lieĂen (Serça). Hinweise auf den genannten Zusammenhang finden sich auch unter âOptische Instrumenteâ und âFilm Iâ (Serça, Anguissola).
Auch zum damals neuen Medium âPhotographie Iâ gibt es einen Ăberblicksartikel, in dem davon die Rede ist, dass bereits mit Prousts frĂŒhen Schriften eine BeschĂ€ftigung mit dieser einsetzt und er zwischen âMomentaufnahmen und Kunstphotographieâ unterschied. Nur letztere werde, so die BeitrĂ€gerin Eells, in der âRechercheâ âmit den Mechanismenâ der unwillkĂŒrlichen Erinnerung in Verbindung gebracht: âDie âProduktionsschritte der Photographie (Aufnahme, Entwicklung in der Dunkelkammer, Abzug auf Papier) entsprechen den bei der unwillkĂŒrlichen Erinnerung mitspielenden Momenten (sinnliche Wahrnehmung, Versinken im Vergessen, Wiederauftauchen bei einer identischen Wahrnehmung)â. Konsens herrscht in der wissenschaftlichen Literatur, dass Proust die, mit der Erfindung neuer Medientechniken im 19. Jahrhundert verbundenen Bedingungen von Wahrnehmung bzw. die Subjektivierung des Sehens, reflektiert habe.
Proust und die Fotografie ist ein in der Forschung kontrovers behandeltes Thema. Darauf geht Eells in ihrem Artikel kaum ein. Es sei daher auf einen Beitrag von Irene Albers âProust und die Kunst der Photographie verwiesen, der in einem Symposionsband âProust und die KĂŒnsteâ abgedruckt ist (Hrsg: Wolfram Nitsch / Rainer Zaiser, Marcel-Proust-Gesellschaft, 2004, S. 205 ff.). Albers weist darauf hin, dass sich Proust âauf die verschiedensten photographischen Techniken und Stileâ in der âRechercheâ beziehe und erwĂ€hnt z.B. auch die Chronophotographie. Es trifft sich daher gut, dass Henning Schmidgen (*1965), Mitarbeiter am Max-Planck-Institut fĂŒr Wissenschaftsgeschichte in Berlin, in seiner Schrift âDie Helmholtz-Kurven. Auf der Suche nach der verlorenen Zeitâ zu dieser vertiefende Hinweise gibt. Ăber Prousts Vater, der als Arzt und Epidemologe arbeitete, hĂ€tte Proust, so Schmidgen, Kontakt zur âmedizinisch-biologischen Szene in Parisâ gehabt, da sein Vater zeitweilig mit dem Physiologen und spĂ€teren Fotopionier Ătienne-Jules Marey (1830-1904) kooperiert hĂ€tte. Marey, so Schmidgen weiter, sei es denn auch gewesen, der die von Hermann von Helmholtz (1821-1894) durchgefĂŒhrten Zeitexperimente, die sich in zwei Kurvenbildern niederschlugen und mit âtemps perduâ betitelt waren, im französischen Sprachraum populĂ€r und Proust bekannt gemacht hĂ€tte. Helmholtz und Proust, so Schmidgen, trafen sich in ihren âZeit-Recherchenâ und dass sie der Photographie groĂe Bedeutung zumaĂen.
Neue Formen der Wahrnehmungen bringt Proust ferner mit neuen Fortbewegungsmitteln in Verbindung und diese verweisen wieder auf die Ăsthetik der Moderne, Geschwindigkeit und Perspektivenwechsel zurĂŒck. Ăber weitere Stichworte, etwa zur âModernitĂ€tâ, âAutomobilâ, âMartinvilleâ oder âImpressions de route en automobile. I. ArrivĂ©e Ă Caenâ kann dieser Aspekt erschlossen werden (Leriche, Serça, Keller, Keller).
MPE 6: Abbildungen von Proust / Bearbeitungen seiner Werke / Rezeption
Auf die Aspekte, Abbildungen von Proust und Bearbeitungen seiner Werke, geht die MPE unter âPhotographie IIâ ein. So erwĂ€hnt Keller, dass Proust âhĂ€ufig abgelichtetâ worden sei und âzwar von den guten Photographen der Zeitâ wie z.B. Paul Nadar (1856-1939). Gleiches, so Keller weiter, lieĂe sich von Malern nicht sagen, da sie sich, wie Keller unter âMalerei IIâ anfĂŒhrt, âProust nur seltenâ, wie etwa von âPaul Helleuâ (1859-1927) oder Man Ray (1890-1976) âals Modell genommenâ hĂ€tten. Da Helleu ein Stichwort erhĂ€lt, wird man auch dort zu diesem Aspekt fĂŒndig (Yoshikawa). Im zweiten Abschnitt des Artikels geht Keller auch auf Illustrationen zu Prousts Werken ein. Er erwĂ€hnt u.a. die Illustrationen zu Prousts BuchdebĂŒt. Diese stammen von der KĂŒnstlerin âMadeleine Lemaireâ (1845-1928), in deren Salon Proust verkehrte. Keller weist ferner auf die 1991 in Illiers gezeigte Ausstellung âProust illustrĂ©â hin, die einen Ăberblick zu diesem Aspekt erlaubt. Auch neuere Adaptionen hat Keller im Blick und fĂŒhrt den Comic des KĂŒnstlers StĂ©phane Heuet (*o.A.) an. Weitere Bearbeitungen lassen sich unter den Stichwörtern âTheater II, Film II, Musik IIâ aber auch unter Personennamen, so âReynaldo Hahnâ (1875-1947), einem Freund Prousts finden (Keller, Jean Milly/ Keller, Keller, Anguissola).
Fragen der Rezeption werden in einer Reihe von Artikeln mit lĂ€nderspezifischer Ausrichtung und in einem Ăberblicksartikel behandelt, den Keller verfasste. Die Rezeption habe, so Keller, âmit einem Fiaskoâ begonnen und âerst in den 1950er Jahrenâ sei Proust als einer âder GroĂen der Literatur ĂŒberhaupt erkannt und anerkanntâ worden. Nicht allen BezĂŒgen auf Proust kann die MPE nachgehen, zumal laufend Neues hinzukommt und manche Verbindung noch der Entdeckung harrt. Eine schöne Geschichte lĂ€Ăt sich vom Enkel Sigmund Freuds (1856-1939), dem Maler Lucien Freud (*1922), einem Spezialisten fĂŒr PortrĂ€ts, berichten. Dessen Modelle vertrieben sich die Zeit wĂ€hrend der PortrĂ€tsitzungen damit, Prousts âRechercheâ zu lesen und auf einem GemĂ€lde fand dieses Buch, als kleine Hommage auch ins Bild. Als eine solche legte der KĂŒnstler Elger Esser (*1967) seine Ausstellung an. Unter dem Titel âEigenzeitâ stellte Esser seine GemĂ€lde vom 28.11.2009 bis 11.4.2010 im Kunstmuseum Stuttgart zu sehen waren. Dort wurde, standesgemÀà fĂŒr Proust, ein SĂ©parĂ©e reserviert.
MPE 7: Prousts Schreiben / Proustiana
Proust ist dafĂŒr bekannt, einen âchaotischenâ Arbeitsstil gepflegt zu haben. MaĂgeblichen Anteil daran, dass das wilde, kreuz und quer beschriebene, hĂ€ufig auch zusammengeklebte, leporelloartige Zettelwerk, die âpaperolesâ, in eine Ordnung gebracht wurde, hatte seine HaushĂ€lterin âCĂ©leste Albaretâ (1891-1984) (Deschamps). Einen Eindruck von Prousts Arbeitsstil und seinem Briefwerk gibt der vom Literaturwissenschaftlicher JĂŒrgen Ritte (*1956) und dem Proust-Sammler Reiner Speck (*1941) herausgegebene Band âCher ami...Marcel Proust im Spiegel seiner Korrespondenzâ, der bei der Snoeck Verlagsgesellschaft 2009 erschien. Unter âProustianaâ befasst sich Keller mit Literatur, die nach Prousts Tod erschien und nimmt, unter dem Abschnitt âAusstellungs- und Bibliothekskatalogeâ, auch den Ritte-Speck-Band auf, da dieser als Katalog zu einer Ausstellung im MĂŒnchner Literaturhaus erschien. Die dort gezeigten Trouvaillen stammen aus Specks Proustiana-Sammlung. Abgebildet werden 81 Privat- und GeschĂ€ftsbriefe, BriefumschlĂ€ge, Postkarten, einzelne Manuskriptseiten und einige âpaperolesâ, Buchausgaben von Werken Prousts und Photographien, aber auch andere Materialien, wie einige sehr schönen Szenen einer Laterna magica.
Dieser Band bietet, neben Artikeln von 15 kenntnisreich schreibenden Autoren, einen Einblick in die âBibliotheca Proustiana Reiner Speckâ und erlaubt einen Blick auf Briefwerk. Die Herausgeber wandelten den Satz des Schriftstellers Jean Paul (1763-1825), dass BĂŒcher nur dickere Briefe an Freunde seien, etwas ab und machten aus der Speck-Sammlung von Proust-Dokumenten und Briefen ein voluminöses, sehr schönes Buch mit umfĂ€nglichem Anhang, hervorragenden Abbildungen und interessanten BeitrĂ€gen. So zeigt etwa der Beitrag von Ursula Link-Heer (o.A.) die spannungsreiche Beziehung von Proust und Montesquiou und bezeichnet eine âArt Besprechung dreier Essay-Sammlungen Montesquiousâ von Proust, die 1905 in âLes Arts de la vieâ erschien, als den vielleicht âwichtigsten frĂŒhen avant-texte der Recherche.â Nicht minder interessant ist der Beitrag von Ritte, der das Beziehungsgeflecht Proust, âPaul Morandâ und âJean Giroudouxâ (1882-1944) analysiert und in diesem Zusammenhang den Proustschen MaĂstab âallen Fortschritts in der Kunstâ vorstellt: âdie neue Sicht der Dinge.â
MPE 8: Graphisches von Proust
Zum Werk Prousts gehören auch von ihm angefertigte Zeichnungen, die unter âZeichnungenâ und âPortrĂ€tâ vorgestellt werden (Dyer, Henrot). Beide Autoren fĂŒhren aus, dass sich Proust in puncto Zeichnungen als nicht sonderlich begabt ansah, aber âfĂŒr sein Leben gern...kritzelteâ. Dieses âGekritzelâ, wie die Zeichnungen auch genannt werden, kann nun auch von jenen, die die Ausstellung nicht gesehen haben, betrachtet werden, da einige bei Ritte/Speck abgebildet sind. Prousts Zeichnungen systematisiert und analysiert Caroline Szylowicz (o.A.) bei Ritte/Speck unter den Aspekten Form, Inhalt, Funktion, TrĂ€germaterialien und Ort der Positionierung. Die Autorin fĂŒhrt aus, dass Proust sich zeichnerisch sowohl Kenntnisse der Kunstgeschichte aneignet habe als auch seine Meinung zu Kunstwerken in Form von Zeichnungen ausdrĂŒckte und sie, drittens, als parodistisches Mittel einsetzte. Zeichnungen treten in mehreren Varianten auf. GrundsĂ€tzlich wird zwischen schriftlosen eigenstĂ€ndigen Zeichnungen und solchen mit Schriftelementen unterschieden, die das Schriftliche komplettieren oder kommentieren oder in Kombination mit der Signatur des Romanciers auftreten. Zeichnungen können sich auf separaten BlĂ€ttern, auf Briefen oder als in den Text eingerĂŒckte Elemente auf Romanmanuskripten befinden.
Benachbart ist dem âGekritzelâ die Handschrift und diese wird bei Ritte/Speck unter einem graphischen Aspekt von Manfred Schneider (*1944) betrachtet. Schneider kommt ĂŒber einen kleinen Umweg, der dem Schreiben und dem Handschriftlichem von Literaten gewidmet ist, auf Proust zu sprechen. Proust hat im engeren Sinn Manuskripte, also von Hand Geschriebenes, hinterlassen. Es ist daher besonders reizvoll, dass im vorliegenden Band einige reproduziert wurden. Auch zu diesem Aspekt bietet die MPE ErlĂ€uterungen unter âĂcritureâ und âCahiersâ an (Serça, Brun).
Auch in der âRechercheâ findet sich, im Zusammenhang mit dem Schreiben und mit Briefen, mancherlei Gezeichnetes wie Vignetten oder Schnörkel. Diesem Aspekt widmet die MPE kein eigenes Stichwort. Auch zu Proust als EmpfĂ€nger von Gekritzeltem gibt es kein eigenes Stichwort. FĂŒndig wird man trotzdem, es gilt âAntoine Watteauâ (1648-1721) aufzuschlagen. Dort ist vom Absender von Gekritzeltem, dem Freund von Proust, dem Literaten âRenĂ© Peterâ (1872-1947) die Rede, dessen Kritzeleien auf einem Briefumschlag Proust âfarbiger als eine Zeichnung Watteausâ empfindet (Yoshikawa/Keller). Es trifft sich daher gut, dass dem PhĂ€nomen der Graffiti von Literaten in einer Ausstellung im Literaturmuseum der Moderne in Marbach nachgegangen wurde, die vom 28.1. bis 18.4.2010 zu sehen war. Kritzeleien, die sich wĂ€hrend eines Schreibprozesses einen Weg aufs Papier bahnen und dort als mehr oder wenig unbewuĂt entworfenes Gekritzel ankommen, werden in Marbach als âNebenwege des Schreibensâ bzw. als âRandzeichnungenâ, bezeichnet. In der literaturwissenschaftlichen Forschung waren diese nebensĂ€chlichen Spuren des Schreibens bislang ein Randgebiet und werden mit der Ausstellung erstmals ins Zentrum gerĂŒckt. Begleitet werden diese von einer instruktiven EinfĂŒhrung des Schriftstellers Heinrich Steinfest (*1961). Fern jeder illustrativen Funktion, wird die Randzeichnung von Steinfest als struktureller Verwandter der literarischen Abschweifung angesehen. Wie diese, so Steinfest weiter, den Haupttext ja nicht kommentiere, sondern ihm eine zusĂ€tzliche Ebene einzöge, so statte die Randzeichnung den Text mit einer âzusĂ€tzlichen Ebeneâ aus. Proust im Kreise seiner mitkritzelnden Kollegen zu versammeln, war den Marbachern in ihrem sorgfĂ€ltig gemachten Katalog zwar nicht vergönnt, die Frage des Marbacher Direktors Ulrich Raulff (*1950) im Vorwort des Katalogs: âWelche Kreaturen gebiert der Halbschlaf der kritzelnden Handâ? allerdings beantworteten Ritte / Speck mit schönen Abbildungen von Prousts âKreaturenâ.
Streiflicht
Zu BĂŒchern hatte Proust eine besondere Beziehung und bezeichnet sie als âneue Freundeâ. Solche hat Proust auch in Ritte und Speck und es ist sehr gut möglich, dass die Herausgeber damit neue Proust-Freunde gewinnen. Sowohl Ritte/Speck als auch Schmidgen bereichern die Forschung zu Proust und die Marbacher tragen ihr Scherflein dazu bei, da sie zeigen, dass diese Zeichnungen nicht nur untrennbar mit der Entstehung von Schriftwerken verbunden sind, sondern ĂŒberdies das Schöne auch im RandstĂ€ndigen zu finden ist. Dies hĂ€tte Proust gewiĂ ebenso gefallen wie die Gestaltung der vorgestellten BĂŒcher, die, passend zu Prousts Verehrung des Erfinders der Buchdruckerkunst, in der Belle Ătage der Gutenberg-Galaxie siedeln. Als wĂŒrdiger Vertreter dieses Universums trat auch der Gestalter der MPE Rolf Staudt auf und stattete diese mit einem dunkelblauen Umschlag und einem Schriftzug aus, dessen Gestaltung auf die Frankfurter Ausgabe der Werke Prousts anspielt.
GeneralschlĂŒssel
Mit der MPE liegt ein GeneralschlĂŒssel bereit, um sich in Prousts Welten auf allen Ebenen zurechtzufinden. Die geschickte Regie des Herausgebers erlaubt es, sich sowohl zu bestimmten Aspekten als auch zum âganzenâ Proust zu informieren, sich ZusammenhĂ€nge zu erschlieĂen und selbst zu weiteren Erkundungen aufzubrechen. Erfreulich ist, dass die MPE Proust widerlegte, der an Intellektuellen kritisiert hatte, dass es diesen nicht gelĂ€nge, selbst einfache Dinge einfach auszudrĂŒcken. Da die Dinge bei Proust jedoch niemals einfach liegen, gebĂŒhrt der MPE der Ruhm, den Spagat bewerkstelligt zu haben, komplizierte und komplexe >Dinge< allgemeinverstĂ€ndlich und zugleich mit wissenschaftlicher PrĂ€zision zu prĂ€sentieren.
Die zentrale Stellung, die die KĂŒnste in Leben und Werk Prousts einnehmen, rĂŒckte die MPE ins rechte Licht und brachte den Stern am blauen Proust-Himmel, die âRechercheâ, dazu, als literarisches Kunstwerk und literarisches Kunstbuch, zu erstrahlen. FĂŒr diese Leistung, dem Publikum diese besondere Form einer literarischen Kunstgeschichtsschreibung und Kunstbetrachtung auf höchstem Niveau prĂ€sentiert zu haben, erhalten die Herausgeber der französisch-deutschen Koproduktion, die Ăbersetzer und Autoren und die Dr. Speck Literaturstiftung, die die Herausgabe der MPE unterstĂŒtzte, den imaginĂ€ren europĂ€ischen Kunstgeschichtspreis 2010.
Besser kann man das Thema Proust und die KĂŒnste in einem Nachschlagewerk, das kein Lexikon zu diesem Thema zu sein beansprucht und ein solches auch nicht ist, nicht prĂ€sentieren. Zum Schluss bleibt nur der Appell an Keller eine gesonderte Abhandlung, gern auch in Form eines Lexikons, zum Thema Proust und die KĂŒnste, in Angriff zu nehmen. Die zahlreiche SekundĂ€rliteratur zu dieser Thematik richtet sich bislang, so groĂ deren Verdienste auch sein mögen, an ein Fachpublikum. Auch das 2010 erschienene Buch von Eric Karpeles (o.A.) âProust und die GemĂ€lde aus der Verlorenen Zeitâ schlieĂt, bezogen auf âRechercheâ, diese LĂŒcke nicht, da es nicht hĂ€lt, was es verspricht. Solch ein Projekt bedarf konzeptioneller, begrifflicher und handwerklicher GrĂŒndlichkeit und daher lĂ€uft alles auf Keller als Herausgeber zu. Er hat mit der MPE sein MeisterstĂŒck vorgelegt und ist zudem gut vernetzt. Der Verlag Hoffmann & Campe wiederum empfahl sich nicht zuletzt durch sein Lektorat. Die Marcel Proust EnzyklopĂ€die ist ein Gesamtkunstwerk.
ErwÀhnte Literatur
JĂŒrgen Ritte / Reiner Speck (Hrsg.) (2009) âCher ami....â Marcel Proust im Spiegel seiner Korrespondenz. Briefe und Autographen aus der Bibliotheca Proustiana Reiner Speck. Mit BeitrĂ€gen von Philippe Chardin, Eva Erdmann, Kerstin von Hagen, Luzius Keller, Joyceline Kolb, Ulla Link-Heer, Nathalie Mauriac, Rainer Moritz, Mireille Naturel, Angelika Rieger, JĂŒrgen Ritte, Pierre-Edmond Robert, Manfred Schneider, Michael Sostarich, Reiner Speck, Caroline Szylowics, dt./ franz., Ăbersetzung: Stefan Barmann, Claire Debard, Diane Gilly, JĂŒrgen Ritte, geb., 352 S., 500 farbige Abb., 31,5 cm x 23 cm. Köln. Snoeck Verlagsgesellschaft. ISBN: 978-3-940953-04-9. ⏠48,00
Henning Schmidgen (2009) Die Helmholtz-Kurven. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. kart., 270 S., 37 s/w Abb., 12 cm x 17 cm. Berlin. Merve Verlag. ISBN: 978-3-88396-279-5. ⏠20,00
Deutsches Literaturarchiv Marbach (Hrsg.) (2010). Randzeichnungen â Nebenwege des Schreibens. Marbacher Magazin Nr. 129. Texte: Ulrich Raulff und Heinrich Steinfest. kart., 101 S., zahlreiche farbige Abb., 14 cm x 21 cm. Marbach am Neckar. Deutsches Literaturarchiv. ISBN: 978-3-937384-64-1. ⏠10,00
28.03.2011
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Sigrid Gaisreiter |
Marcel Proust - EnzyklopĂ€die. Handbuch zu Leben, Werk, Wirkung und Deutung. Hrsg: Luzius Keller. Ăbers.: Melanie Walz. 1010 S. 17 x 24 cm, Gb. Hoffmann und Campe, Hamburg 2009. EUR 128,00 |
ISBN 978-3-455-09561-6
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