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Gerhard Riebicke: Photographien "....aus den sündigen Räumen der Wohnung" |
Mit einer verordneten Prüderie scheuchte das 19. Jahrhundert die Bilder der Nacktheit aus dem öffentlichen Leben, so dass sie unter dem Ladentisch kursieren mußten. Den Reformbewegungen gelangen erst nach 1900 gewisse Einbrüche, und in Zeitschriften wie "Die Schönheit" fand der fotografische Freilichtakt schließlich erste Möglichkeiten des Auftritts. Die Modelle mußten gewissermaßen aus den sündigen Räumen der Wohnung in die lichten Gefilde der Natur treten, damit ihre Nacktheit als natürliche angesehen werden konnte. Die Losung ‘Zurück ins Paradies’ bedeutete jedoch zugleich eine Vertreibung des Erotischen, dessen auch nur geringste Andeutung dem Pinsel des Retuscheurs oder dem Stift des Zensors zum Opfer fiel.
Die 1920er Jahre erlebten eine - zumindest mediale, wenn auch nur partielle - Befreiung von diesen Zwängen. In den freimütigen Ansichten treten Frauen und Männer gemeinsam auf, sie werfen sich Bälle zu und springen mit gestreckten Armen der Sonne entgegen. Doch es ist eine gezügelte Nacktheit, der noch die Fesseln früherer Beschränktheiten anhaften. Viele Posen wirken verkrampft, die Bogenschützin mimt ihre Vorfahrin aus der Mythologie, und die Geschlechtlichkeit der Männer verbirgt sich noch oft hinter einem winzigen Schurz oder dem vorgestreckten Bein, das der Kamera zugewendet ist.
Die Aufnahmen von Gerhard Riebicke (1878 - 1957) gehören zu den typischen Zeugnissen für diese Aufbruchstimmung, in der sich Gelöstheit und Verklemmung häufig die Waage halten. 1909 nach Berlin gekommen, arbeitet der ehemalige Lehrer ab 1918 als Pressefotograf und spezialisiert sich auf Sportereignisse. Mitte der 20er Jahre kommt Riebicke in Kontakt mit Kreisen, die Tanz und Gymnastik betreiben und der Körperbildung und Nacktkultur anhängen. Seine Fotografien finden den Weg in die führenden Magazine und zahlreiche Buchpublikationen. Heute noch am bekanntesten sind die Szenen, die Riebicke als Standfotograf für den Ufa-Film Wege zu Kraft und Schönheit aufgenommen hat.
Diese und andere Bilder sind nun für ein Buch ausgewählt worden, dessen Titel ebenso verschweigt, daß es nahezu ausschließlich Aktaufnahmen enthält, wie er den Eindruck erweckt, als würde es sich um eine Retrospektive zum Wirken des Fotografen handeln. Insofern paßt eine solch mehrdeutige Überschrift zu den Fotografien, die zwar den Blick auf nackte Körper freigeben, diese aber zugleich vor allen Anmutungen der Sexualität zu bewahren suchen. Nicht nur sind die Sprünge und Gesten, Haltungen und Spielszenen inszeniert, sondern auch die Fröhlichkeit in den Gesichtern der Akteure erscheint nicht selten wie eine, die der Fotograf verordnet hat. Und so können diese Aufnahmen - losgelöst aus dem publizistischen Kontext ihrer Zeit wie dem sonstigen Schaffen des Autors - kaum mehr hervorrufen als ein verwundertes Lächeln. Dieses allerdings vergeht rasch, bedenkt man, dass die Nationalsozialisten mit ähnlich sterilen Bildlösungen ihre Vorstellungen von der Funktion der Geschlechter propagiert haben. |
Timm Starl |
Riebicke, Gerhard: Photographien. Vorw. v. Immisch, T O. Hrsg. v. Niemann, Bodo. 72 S., 55 Abb. in Duotone - 25 x 21 cm. 'Galerie Niemann' DEM 39,80/CHF 39,80 |
ISBN 3-926298-25-1
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