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Marta Astfalck-Vietz. Inszeniertes Selbst/

Wenn mehr als dreißig Jahre nach einer ersten Monographie über eine fast vergessene Künstlerin, von der selben Institution herausgegeben, eine zweite erscheint, offenbart dies – mehr noch als den Zuwachs an biographischen Erkenntnissen – den gewandelten Blick der Kunstgeschichte auf das Werk. Deutlich wird dies an den beiden Ausstellungskatalogen, die die Berlinische Galerie im Abstand von 34 Jahren dem Werk der Fotografin Marta Astfalck-Vietz widmet. Die erste Monographie erschien 1991, noch zu Lebzeiten der Künstlerin, anlässlich der Übergabe ihres Archivs und Lebenswerks an das Berliner Landesmuseum. Publikation und Ausstellung führten zur Entdeckung eines fotografischen Werks, das Betrachterinnen und Betrachter seither in seinen Bann zieht. Abseits jeglichen Mainstreams und doch im Dialog mit der fotografischen Avantgarde ihrer Zeit hatte die Berliner Künstlerin, vorwiegend in den Jahren 1925 bis 1932, ein fotografisches Werk von großer Souveränität und Lust an experimenteller Gestaltung geschaffen. Sie experimentierte mit Doppelbelichtungen, Fotomontagen und fluiden Selbstinszenierungen, die ihr Werk zu einem herausragenden Bestandteil der europäischen Avantgarde machen. Janos Frecot, der als Leiter der fotografischen Sammlung der Berlinischen Galerie das Werk für die Nachwelt sicherte, konnte für die erste Werkmonographie noch auf Gespräche mit der Fotografin zurückgreifen und verortete ihr Werk in der heroischen Zeit des Neuen Sehens. Staunend wurden die fotografischen Selbstinszenierungen, Verkleidungen, Enthüllungen und die in „tänzerische Bewegung verliebten Verwandlungen“ (Elisabeth Moortgat) der Fotografin zur Kenntnis genommen und der Öffentlichkeit präsentiert. Dies schaffte die Grundlage, ihr Werk in den folgenden Jahrzehnten den Arbeiten der Bauhaus-Fotografin Gertrud Arndt, den genderfluiden Selbstportraits Claude Cahuns oder gar den Werken Cindy Shermans an die Seite zu stellen.
Heute, eine Generation später, staunt die Öffentlichkeit erneut über das Werk der fotografischen Pionierin. Mit dem um 150 Seiten vermehrten Umfang, den zahlreichen, exzellent gedruckten Tafelseiten und ausführlichen Werkanalysen ist die zweite, neue Monographie mit dem Titel „Inszeniertes Selbst/Staging the Self“ eine großartige Hommage an das Werk der Künstlerin. Doch die Unbefangenheit des Staunens über ein eigenständiges, sich ganz offensichtlich den Zwängen der Auftragsfotografie entziehendes Werk verliert sich bisweilen zwischen den politisch-korrekten Zeilen der Essays. Das fotografische Spiel mit Mimikry, Travestie, der Inszenierung der eigenen Identität, das Ausprobieren von Rollen und Attitüden, das auch tänzerische Posen in Kimono oder Bastrock umfasste, wird nun als „unreflektierte Aneignung von nicht-europäischen kulturellen Ausdrucksformen“ beschrieben. Vor dem Hintergrund einer globalen kulturkritischen Perspektive mag dies sicherlich richtig sein; die innovative Kraft und Unkonventionalität der – nahezu durchgehend unbetitelten – zugleich aufwendig inszenierten und mit großer spielerischer Leichtigkeit versehenen Selbstportraits wird die schulmeisterliche Kritik indes nicht gerecht. Diese zweite Hommage an eine großartige Fotografin lädt vielmehr ein, erneut ein ganz und gar unkonventionelles Werk zu entdecken, das von der inneren Freiheit einer Künstlerin zeugt, die in den 1920er Jahren in der Fotografie ihr kongeniales Ausdrucksmedium fand.

06.11.2025
Rainer Stamm
Marta Astfalck-Vietz - Inszeniertes Selbst. Die Fotos der Berliner Ausnahmekünstlerin der Avantgarde. Hrsg.: Köhler, Thomas; Reich, Katia. Englisch; Deutsch. 256 S. 100 fb. Abb. 28,5 x 22,2 cm. Hirmer Verlag, München 2025. EUR 49,90.
ISBN 978-3-7774-4534-2
 
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