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Jörg Colberg - Fault Lines |
Ungarische Bruchstellen
Jörg Colbergs Buch „Fault Lines“
Eine „Fault Line“, das ist eine Verwerfung, eine tektonische Zerreiß- oder Bruchstelle im Gestein, genauer gesagt, die Schnittlinie einer Verwerfung mit der Geländeoberfläche. Eine solche Verwerfungslinie beschreiben die Bilder des neuen, schmalen Fotobuchs von Jörg Colberg, das nun im Kerber-Verlag erschienen ist.
Colberg, der seit zwei Dekaden in den USA lebt und an der University of Harford lehrte, ist bekannt als Fototheoretiker und Buchautor, Initiator des Conscientious Photography Magazine, aber eben auch als Künstler, oder, sagen wir besser: Soziologe der Fotografie. Denn es geht ihm nicht um das schöne, nicht mal um das originelle Bild, wie schon sein Buch „Vaterland“ zeigte, mit dem er sich erstarkenden nationalistischen Tendenzen in Deutschland widmete.
Und auch das neue Buch des 1968 in Wilhelmshaven geborenen Colberg beschäftigt sich mit den politischen Verwerfungen, mit der Soziologie der Gegenwart. „Die Vergangenheit ist nie tot“, schrieb William Faulkner, „sie ist nicht einmal vergangen.“ Und so scheint es auch in Ungarn zu sein: Das Wiedererstarken des autoritären Staates nahm seinen Beginn schon vor vielen Jahren.
Das Buch mischt Architekturbilder mit Porträts und Darstellungen von Relikten der sozialistischen Vergangenheit Ungarns. Immer wieder unterbrechen Zitate der gezeigten Personen den Fluss der Bilder. Doch das erste Zitat stammt von Viktor Orbán selbst: „In den letzten vier Jahren fand in diesem Land eine wahre Revolution statt. Diese Revolution spielte sich nicht nur auf den Straßen und Plätzen ab, sondern in der Seele. Sie wurde nicht mit Schwertern und Blut erkämpft, sondern mit dem Herzen und dem Glauben.“
Diese Revolution ist eine, die vielen Menschen Unbehagen und Angst bereitet, wie etwa Domonkos Németh, dessen Zitat dem von Orban folgt: „Wir können unser tägliches Leben leben, aber von Zeit zu Zeit kommt etwas dazwischen. Es bringt Unbehagen mit sich, und man denkt wöchentlich darüber nach, das Land zu verlassen. Jedes Mal, wenn man mit dem Gedanken spielt, hier Kinder großzuziehen ...“
Es sind fotografische Grisaillen, die uns Colberg hier zeigt, Denkmäler der Vergangenheit, marode Hausfassaden, Graffiti, Zäune und Mauern, eine vertrocknete Blume am Boden, dann das Porträt einer jungen Frau, dann ein ruinöser Wintergarten, ein Baum auf einer Wiese, der Schatten eines Baumes auf einer Hauswand.
Diese grauen, wenig kontrastreichen Bilder sind paradoxerweise so banal wie substanziell – werden von den Texten gewissermaßen aufgeladen, wie etwa jene Sätze von Judit Gellér: „Ich habe große persönliche Verluste erlebt. Ich bin in Pécs geboren und aufgewachsen, einer Stadt im Süden Ungarns. Pécs war Kulturhauptstadt Europas 2010. In meiner Abiturklasse waren wir 42 Schüler:innen. Von denen sind jetzt noch zehn im Land.” Oder von Ákos Polgárdi: „Es ist ein sehr seltsames Gefühl, wenn man feststellt, dass man in seinem eigenen Land zu einer unerwünschten Gruppe von Menschen gehört. Es ist befremdlich.”
Und so sind auch die Bilder dieses Buches befremdlich, verursachen Unbehagen, zeigen ein Land unter einem Grauschleier, ein gespaltenes Land, dessen Traumata aus der Vergangenheit in die Gegenwart ragen. Es ist ein schmaler Band, der gewichtige Fragen stellt. Der Blick des Fotografen, die Banalität der Bilder, ihre Tristesse, ihre Gleichförmigkeit, ihre Ödnis, all das spiegelt wohl die Stimmung im Land sehr genau, so denken wir beim Blättern, doch wissend diese Stimmung nur erahnen zu können. Colberg widmet das Buch seinen ungarischen Freunden, die hier zu Wort kommen. Man darf hoffen, dass die ungarischen „Fault Lines“, diese Verwerfungen ihr Leben nicht noch mehr beschädigen.
02.06.2025 |
Marc Peschke |
Jörg Colberg. Fault Lines. Gellér, Judith / Kallai, Milos / Németh, Domonkos. 96 S., 44 Abb. 25 x 17,5 cm. Kerber Verlag, Bielefeld. EUR 32,00 |
ISBN 978-3-7356-1000-3
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