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Anne Morgenstern

Die Liebe ist eine dunkle Macht
Anne Morgensterns Buch „Macht Liebe“

Der menschliche Körper ist ein zentrales Thema in der Fotografie von Anne Morgenstern. Schon mit ihrer Werkgruppe „Straight Flush“ machte sie auf sich aufmerksam. Das Buch „Macht Liebe“ stellt nun ihren fotografischen Kosmos umfänglicher vor. Was ein Körper sein darf, diese Frage hat bereits die Fotografie der 1980er Jahre mit Verve gestellt: Damals waren es die homoerotischen Männerakte von Robert Mapplethorpe, die ihre Kraft aus der Verbindung der Themen Sexualität und Gewalt zogen, die strengen Akte Helmut Newtons, die stets in Hotelzimmern fotografierten Frauenbilder der Französin Bettina Rheims oder die schockierende, obsessive Outsider-Fotografie des Amerikaners Joel Peter Witkin: Der sexualisierte Körper kehrte mit aller Macht in die Fotografie zurück.
Und heute? Die Körperbilder von Morgenstern entziehen sich den Kategorisierungen. Die Grenzen zwischen Sinnlichkeit, Banalität und Brutalität sind durchlässig geworden. Ein Körper kann heute Subjekt, dann Objekt, mal selbst, dann fremdbestimmt sein. Die gebürtige Leipzigerin, die in Zürich lebt, trifft mit diesem Buch einen Nerv der Zeit.
Morgenstern gelingen in „Macht Liebe“ neuartige, farbintensive und auch dunkle, unheimliche Bilder, wenn sie die so verschiedenen Menschen zeigt: eine muskulöse Bodybuilderin, ein Männerbein in Strumpfhosen, ein Mann im Latexanzug, ein Dekolleté mit in die Jahre gekommener Haut, ein dürrer Rücken mit Kratzspuren. Es ist eine Selbstverständlichkeit in diesen Bildern, die vielleicht neu ist. Es ist keine wirkliche Provokation mehr, solche Bilder zu zeigen. Der Körper, so will sie uns wohl sagen, er ist eben so, wie er ist. Alt oder jung, dick oder dünn, schlaff oder muskulös, hart oder verletzlich.
Auch ihre Liebe zum Detail, zum Fragment, ist wohltuend. Manche dieser Bilder sind befreiend banal, vor allem auch, wenn Körperfotografien im ständigen Wechsel mit Gegenständen, Möbeln, Tieren, Stoffen oder Räumen gezeigt werden, die Morgenstern als Äquivalent zum menschlichen Körper auffasst. Hier ein Körper, da ein Rollladen, da ein nasses Tuch, ein Fischauge, ein zerwühltes Bett, eine Autotür, ein Wasserrohr oder eine Felsspalte. Was ist der Unterschied? Für Morgenstern gehört alles zusammen, ist Teil eines sexuell aufgeladenen Kosmos.
Gibt es noch Körper abseits der Normen? Anne Morgensterns jetzt erschienenes Buch stellt diese Frage. Die Antwort scheint zu sein: Nein, es gibt keine Körper abseits der Normen mehr, weil es keine Normen mehr gibt. In der Gleichzeitigkeit und Widersprüchlichkeit körperlicher Identitäten liegt eine Spannung, genauso, wie die Übergänge von Körper zu Architektur, von Haut zu Ding, von Material zu Material spannend sind.
Dieses subjektive Fotobuch ist ein visueller Beitrag zur aktuellen Debatte um Körper und Gender, aber nicht nur. Es hat auch einen klassischen Zug, der uns daran erinnert, dass in der Vergänglichkeit Schönheit steckt. Der alternde Körper, der schrumpelige, dicke Körper, der fetischisierte Körper, der erotisierte Körper, all das lässt an Batailles Diktum denken, der geschrieben hat: „Die Erotik kann man bestimmen als das Jasagen zum Leben bis in den Tod.“ Erotik und Sexualität ist immer auch destruktiv, formauflösend – nach der erotischen Philosophie Georges Batailles ist die Vereinigung zweier Wesen letztlich auch die Zerstörung des Einzelnen.
Die Sphäre des Sexuellen bleibt ein Rückzugsgebiet subjektiver Erfahrungen, das Künstlerinnen und Künstler immer wieder aufsuchen, um kraftvolle Werke entstehen zu lassen. Morgensterns fotografische Bildfindungen sind zum Teil extrem banal, aber auch extrem verstörend und extrem stark, weil sie die Distanz zwischen Künstlerin und Betrachter immer stärker minimieren. Die Liebe ist eine dunkle Macht.

05.08.2022
Marc Peschke
Anne Morgenstern | Macht Liebe. Fotos von Morgenstern, Anne.192 S. 21,5 x 30,5 cm. Deutsch. Hartmann Projects Verlag, Stuttgart 2022. EUR 38,00.
ISBN 978-3-96070-082-1
 
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