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Send me an image |
From Postcards to Social Media.
Atemlos durchs schnelle Jetzt: Ein Gesicht macht heute ein BILD aus, das, hier und jetzt auf dem Display erscheint, um sofort verschickt zu werden. Waren die frühen Ikonen dazu gemacht, um von einer Existenz einer heiligen Realität zu zeugen und Glauben an deren Wirksamkeit zu erhöhen, so funktionieren Selfies heute wie zeitgenössisch beschleunigte Ikonen: beiden sind gemacht, um in eine nächste Ferne geschickt zu werden, ein Gesicht zu einem Bild für eine Gegenwart zu machen und mit anderen in Kontakt zu treten. Im Unterschied zur gemalten Ikone basiert das Selfie auf einer Datensammlung von Pixeln, die jederzeit neu verändert werden können. Benjamins Zeitalter der Reproduzierbarkeit hat im Selfie zu sich selbst gefunden. Mit dieser These beginnt ein äußerst lesenswerter Band über die Effekte analoger und digitaler Bilder im Zeitalter ihrer permanenten Vergleich- und Veränderbarkeit.
Der einleitende Text Wolfgang Ullrichs verdeutlicht, dass das Selfie das Medium der Gegenwart geworden ist, dass älteste Portraitfunktionen mit neuester Livekommunikation verschalten kann. Die weiteren Texte dieses Bandes beziehen sich im Unterschied zur einleitenden Geschichte " Von der Ikone zum Selfie" mit bereits sehr speziellen Aspekten heutiger digitaler Bildverarbeitung und -verbreitung, die in verschiedenen Räumen und Zeiten einer Gesellschaft zirkulieren. Der Essay über das Carte-de-Visite Format beleuchtet, wie das Medium der Fotografie ab der Mitte des 19. Jahrhunderts zu einem regelrechten sozialen Kapital der Biographie von Millionen von Menschen wurde. Wie die Gleichzeitigkeit, die sich aus Verfahren der teöegraphischen Bildübertragung ergeben, gleich für Zwecke der sozialen Kontrolle der Gesellschaft in Form von Fahndungsfotos genutzt werden beleuchtet ein nächster Text. Ein Schwerpunkt des Bandes bilden jedoch Untersuchungen, die mitten in die Probleme der digitalen Gegenwart führen: „Anmerkungen zur Echtzeitlichkeit der Streambildzirkulation“, Aspekte von algorithmisch gesteuerten Bildzensur seit Beginn der Coronaepedemie verdeutlichen wie sehr heute technische, soziale und ästhetische Dimensionen ineinander verschmelzen und immer neue Fragestellungen erkennbar werden lassen, die vor kurzer Zeit noch als undenkbar galten. Die Frage etwa aufgrund welcher Unterscheidungen heute politisch unliebsame Bilder im Netz zensiert oder Fake News gelöscht werden, greift in grundlegender Weise in die politisch-sozialen Strukturen von Gesellschaften ein, wie der Text "Technische Bildzensur" von Katja Müller-Helle belegt. Dass digitale Bilder heute ein Kapital aus Bild und Metadaten bilden, dass von Datenbanken verwertet wird, und seit den fünfziger Jahren des XX. Jahrhunderts die Kamera als komplexes Überwachungssystem fungiert und die heutigen Media-Plattform wie Instagram und Whatsapp neuartige Verwertungsinteressen bedienen, zeigt in aller Deutlichkeit Estelle Blaschke in ihrem Text "Bilder orten, Welt ordnen". Bilder sind heute in jeder Hinsicht in "Post Pictures" verwandelt worden - mit neuen Möglichkeiten des Digitalen verändern sich ästhetische Ansprüche: "Aus schön wurde fotogen, aus fotogen wurde instgrammable" - aus der frühen Foto-Industrie wird mehr und mehr eine soziale Individualisierungs- und Kreativ-Industrie, in deren Zentrum der permanent veränderte Umgang mit dem digitalisierten, mobil gewordenen Bild (ent-)steht. Das Mantra des digitalen Jetzt lautet: "Der Klick ist neue Keilschrift."
Der Band "Send me an image", erschienen als Katalog zur gleichnamige Ausstellung der Berliner C/O Foundation, bietet auf diese Weise einen aktuellen Überblick über die derzeitigen Fragestellungen einer globalisierten Welt, deren Maschinenraum längst aus Industrien geprägt sind, die Bilder als Kapital und ideologisches Treibmittel des heutigen Datenkapitalismus benötigen. Dass der/die Leser*in noch in einem umfangreichen Bildteil Abbildungen der ausgestellten Werke von 25 (Medien-)künstler*innen (u.a. Big Names wie Thomas Ruff, On Karwara, Andreas Slominski,) betrachten kann, macht das Buch zu einem kompetenten Kompendium ästhetisch digitalisierter Medialität: der Kunst mit und der Kommunikation und Verbreitung von Fotografien in der Gegenwart. Foto-Bilder-Kommunikation dominiert heute alles; Fotografien bilden inzwischen die DNA von Gesellschaft und sind gerade für heutige Bilder-konsumenten längst viel mehr als bloß visueller Beifang.
16.03.2022 |
Michael Kröger |
Send Me an Image. Hrgs.: Hoffmann, Felix; Schönegg, Kathrin. Steidl Verlag, Göttingen 2021. Deutsch, Englisch. 328 S., 27 x 17 cm. Gb. EUR 28,00 |
ISBN 978-3-95829-962-7
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