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Identifikation und Empowerment

Dieses Buch ist gerade jetzt d a s Buch zur visuellen Gegenwart - buchstäblich und wahrhaftig "Kunst für den Ernst des Lebens". Auf den ersten Blick verwirrt der Zugang dieses Bandes: wieso besteht dessen Inhalt aus einem anonymen Gespräch? Wer stellt sich hier die Fragen und wer antwortet hier? Ist es der Autor persönlich? Spielt er zwei Rollen? Und wenn ja warum? Ist hier noch von Kunst die Rede oder geht es hier um einen sehr ambitionierten Umgang mit bildlicher "Identifikationsmasse" (Wolfgang Ullrich) oder einem aktualisierten Rezeptionsmuster? Fragen über Fragen, die aber im Verlauf der Lektüre dieses Buches immer weniger Sicherheit geben, dafür aber ein Gefühl für Identifikation und Empowerment in der Gegenwart anbieten. Dass dabei Zweifel an unbekannten Fragen nicht weniger werden, spricht für die emphatische Grundhaltung ihres Autors.
Wer heute über das Thema Identität und Nicht-Identität im Kulturkontext Aufklärung benötigt, ist mit Ullrichs klugen Erwägungen bestens bedient.

Doch zunächst dieses merkwürdig zeitgeistig erscheinende Begriffspaar: in der populären Ratgeberliteratur sind "Identifikation" und "Empowerment" bekanntlich seit Jahren so etwas wie die Superstars im zeitgenössischen Schlagwortdschungel. Wer würde heute freiwillig zugeben, dass er sich nicht gerne mit Erfolg und Leistung identifiziert oder nicht gerne das Gefühl geniesst sich von den vielen Anderen, Fremden und Unbekannten abzuheben?

Ullrich ist nun das Kunststück gelungen mit Hilfe von nur zwei "Rezeptionswerkzeugen" die Kommunikation zeitgenössischer visueller Digital-Kultur so zu beschreiben, als ob er zwei zentrale Genabschnitte in der DNA der Kunstrezeption entdeckt und gleich auf sich selbst bezogen und differenziert hätte.

Keine kleine Leistung für diese hochgradig reflektierte Form einer soziologischen Rezeptionstheorie. Wer dieses Buch liest, wird ohne Zweifel in diese oder jene Richtung empowered (wenn das nicht schon bereits während der Lektüre geschehen ist). Dabei wird sie/er sensibel für immer neue Zuspitzungen, das ständige Herausfordern und Triggern vorsortierter Zuschreibungen, die die digitalen Schleusen unserer Gegenwart heute formen und ideologisch so zurichtet, dass uns Hören und Sehen vergeht.
Die demokratischen Medien Fotografie und Film gründen sich auf gemeinschaftliche Bemühungen, schrieb Susan Sontag euphorisch in den siebziger Jahren. Wolfgang Ullrichs Buch kritisiert zu Recht, wie Empowerment längst auch für zersetzende und nicht-demokratische Prozesse mit Andersdenkenden verwendet werden kann.

"Je bekenntnishafter oder engagierter ein statement ausfällt, desto eher gibt es Zuspruch und natürlich Widerspruch und insgesamt mehr Reichweite. Man ermöglicht es anderen damit, sich ihrerseits zu bekennen und den Schulterschluß zu erproben." S. 59. Mit diesen und anderen Sätzen in dieser Reflexionstiefe gelingt es dem Autor immer wieder neu seine Lesenden davon zu überzeugen, dass der heutige instrumentelle Umgang mit Identifikation und Empowerment zunächst sehr fremd und elaboriert wirkt, dann aber - auch durch spannende Exkurse in die Zeitgenössische und historische Kunstgeschichte (z.B. Theaster Gates, Joseph Beuys, Peter Paul Rubens) - immer mehr an Evidenz gewinnt. Das Ästhetische ist ein öffentlich gesteigertes Politikum geworden; das Soziale zu einem faktischen und gleichzeitig mit Fakes und Memes operierendem Meinungskrieg. Mit diesen zum Teil bewusst doppeldeutig verstehbaren Einsichten, die auch die perfiden Kommunikationsstrategien des rechten Populismus einbeziehen, wird der Ernst unseres digital mobilisierten Lebens gleichzeitig beschworen und in Form heutiger aktivistischer Projekte nachdrücklich reflektiert und so ein erweiterter Distanzraum geschaffen - in einer Zeit, in der die "gesamte Kultur auf Identifikation umgepolt wird" (S. 67) ein hoher ethischer Anspruch.

Leserinnen bereits früher erschienener kunst- und kulturkritischen Studien von Wolfgang Ullrich werden bemerken, dass es sich bei diesem neuen Band auch um eine Art Resümée seiner bisherigen Forschungen handelt: Ob seine eigenwillige These zum "Siegerkünstler", seine Debatte um die Macht von Kopien und den Originalitätsverfall oder die digital bedingte Transformation des Kunstpublikums in eine Gemeinschaft von diversen Fan-Kulturen: Ullrich war (und ist auch hier wieder) seinen Fachkolleginnen der Kunstgeschichte und Philosophie immer bereits einige Schritte voraus und darf sich inzwischen wohl selbst mit Recht als Sieger-Theoretiker der visuellen Gegenwartstheorie fühlen (ohne jedoch diesen besonderen Status eigens hervorzukehren) Insofern gilt: an sich selbst und seine eigenen Freiheits-Spielräume weiter glauben, auch um zu verhindern, dass rechte Wut und Hass weiter zu kollektiven Treibern werden....

04.10.2024
Michael Kröger
Identifikation und Empowerment. Kunst für den Ernst des Lebens. Ullrich, Wolfgang. 224 S. 21,5 x 13,5 cm. Br. Wagenbach Verlag, Berlin 2024. EUR 24,00.
ISBN 978-3-8031-3745-6
 
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