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Venedig. Eine literarische Zeitreise

Zwölf Momentaufnahmen aus Venedig mit dem Fokus auf das 19. und 20. Jahrhundert. Die Stadt als Hintergrundkulisse und Bühne für, meistens, einige ihrer berühmten Besucher und ihr Interesse an Kunst. Subjektiv ausgewählt, doch legitimiert durch sprachlich und inhaltlich anspruchsvolle Essays. Fotografisch schwarz-weiß ergänzend gerahmt und atmosphärisch verdichtet. Der Eingangsapplaus vor dem Auftritt dieser Protagonisten:

Pietro Aretino zuerst, Satiriker und Kunstkritiker. Der Raimondis pornographische Kupferstich-Szenen (nach Gemälden des Raffael-Schülers Romano) lyrisch unterlegt und den Tizian nur mit einem Handschuh über der messerkampfvernarbten Hand porträtieren darf. Im literarischen Fehdeauftritt um Commedia dell Arte und bürgerliche Komödie folgen Gozzi und Goldoni. Der seiner Zeit ebenso voraus ist wie nach ihm Casanova, hier nur mäßig vom Klischee des ewigen Erotomanen befreit. Goethe tritt auf, entdeckt auch Palladio und wird ihn mit seinem Weimarer „Römischen Haus“ zitieren. Venedig, nun imaginiertes Bühnenbild einer Tankstelle für weltschmerzgefangene Künstler wie Platen und Byron, wird Reiseort zu romantischem Empfinden und Genießen. Ein Reiseweg, der bald zu Schönheit und Kunst als Religionsersatz führt. Und zu einem Venedig als Synonym für Tod, Vergänglichkeit; an Wagners Todestag steht Nietzsche vor dessen Palast-Fenstern. Und lehnt, polarisierend auch hier, venezianische Kunst ebenso ab wie der sie bewundert.

Scheitern liegt in der Luft. Der Bühnenplatz wird frei für Marcel Proust der, unterwegs mit John Ruskins architekturtheoretischen Reiseführern, die verlorene Zeit in sinnvoll gestaltetem künstlerischen Scheitern findet. Der häufige Venedig-Besucher Gerhart Hauptmann wird etwas konkreter, schildert uns in „Und Pippa tanzt“ die gescheiterte Reise zu einer unerreichbar gewordenen Stadt, wahrscheinlich Venedig. Rilke und Hesse folgen, beide fast manisch mit detaillierten, zeitunüblichen Alltagsbeobachtungen beschäftigt. Wodurch Rilke allem fotografischen Abbild zu mißtrauen lernt und sich von hier mit einer Absage an alle bildlichen Vorstelllungen verabschiedet. Ähnlich und doch anders der gemächlichere Hesse, der den lebendig-vielfältigen Alltag genießt und ihn literarischen Spiegelungen vorzieht.

Unverzichtbar auf einer solchen Bühne: Thomas Mann. Mit seinem „Tod in Venedig“ verselbständigt sich Ästhetisches endgültig zum Ästhetizistischen. Schönheit, früher Anregung zum Kunstgenuß, wird nun Krankheit zum Tode. Hemingway paßt hierher, der Tierjäger auf Torcello, dem dessen kunsthistorische Qualitäten fremd bleiben. Mit Ezra Pound und Joseph Brodsky folgen zwei weitere von ihrer Zeit Zerrissene. Wie stark die Imagination dieser Stadt wirkt zeigt sich bei Texten von Brodsky, dem das noch ungesehene Venedig hilft, ein sowjetisches Straflager der Sechziger Jahre zu überstehen. Auf Venedigs Toteninsel San Michele sind beide begraben.

Ein literarischer Reiseführer? Nicht nur. Hier präsentiert sich profundes Detailwissen, gebündelt mit viel Allzumenschlichem und Künstlerischem, vor farbigen zeit- und kunsthistorischen Hintergrundkulissen. Was dies Buch auch zum Kunst- und Kulturführer, Lexikon, Nachschlagewerk werden läßt, zur Fundgrube und einem Steinbruch für alle an Kultur Interessierten. Zu einem Buch, aus dem man ungerne wieder abreist. Und wenn, dann nach Venedig.

08.10.2015
Wolfgang Schmidt, Berlin-Friedenau
VENEDIG. Eine literarische Zeitreise. Hultenreich, Jürgen K. Foto(s) von Fischer, Angelika. 208 S. 160 Abb. 1 Lageplan. 17 x 25 cm. Edition A.B. Fischer, Berlin 2015. EUR 24,80. CHF 35,50
ISBN 978-3-937434-65-0
 
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