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Tür an Tür. Polen – Deutschland

Berlin, Ausstellungsort Gropius-Bau. Nicht weit von hier kämpfte die polnische I. Kościuszko-Division im April/Mai 1945 zusammen mit sowjetischen Truppen um Hitlers Reichskanzlei; Steinnarben von Einschusslöchern am Portikus-Aufgang des Gropius-Baues sind stumme Belege aus dieser Zeit.
Noch nicht vernarbte Wunden anderer Art zeigten sich, als eines der „bedeutendsten Werke der zeitgenössischen polnischen Kunst“ (Katalog), Artur Zmijewskis fünfminütiger „Berek“-Film aus dem Jahr 2000 über nackt in einem Keller und einer Gaskammer Fangen spielende Erwachsene, nach Besucherprotesten nicht mehr gezeigt wurde (und wird). Damit war die in rechts-konservativen polnischen Kreisen wenig gelittene Ausstellungs-Chefkuratorin Anda Rottenberg um eine maßvoll-leidvolle Erfahrung reicher, wurden doch in von ihr verantworteten Warschauer Ausstellungen Kunstwerke von Besuchern zerstört, die sich in ihrem nationalen Empfinden verletzt fühlten. Zu hoffen ist deshalb, dass die hier vom Warschauer Schloss und dem Gropius-Bau gemeinsam konzipierte Schau nicht deshalb nicht (auch) in Warschau gezeigt wird, weil sie die deutsch-polnische Dekonstruktion gängiger beidseitiger nationaler Mythen, Tabus und Ideologeme (Stichworte: der Deutsche Orden/Tannenberg, Veit Stoß, Kopernikus, Antisemitismus in Deutschland und Polen) nach 1990 in Text und Bild an- und aufzeigt. Gedacht für ein breites und junges (dann gar vom Eintritt befreites) Publikum, finden sich deshalb in Ausstellung und Katalog kurze, lexikonartikelähnliche Erläuterungen „von Wissenden für Nicht-Wissende“ (Ausstellungsleitung), die im Idealfall das konzeptionell-strukturelle Defizit themen- und periodenübergreifender Darstellungen kompensieren. Präsentiert werden auf einem Zeitbogen von 1000 Jahren Objekte, Begriffe, Orte und Zeitabschnitte, deren sprachlicher Duktus von der verständlich-wissenschaftlichen Abhandlung (wie der des 92-jährigen Nestors der neueren polnischen Romanik-Forschung) bis hin zu den rockend-vibrierenden Impressionen eines Kenners der Musikszene der DDR und Polens oszilliert. Die Resultate dieser Skizzen, besonders überzeugend immer dann wenn sich die heutige Perspektive schlüssig aus der unpolemischen Auseinandersetzung mit fast 150 Jahren jeweiliger „nationaler“ Geschichte und Kultur ergibt, verdeutlichen die historisch-kulturelle Einbindung beider Nationen in einen wieder zu erinnernden, hier erinnerten europäischen Kontext. Der dabei erwartete Rekurs auf wechselseitige deutsch-polnische Beziehungen bleibt jedoch, etwa in der Architekturgeschichte zwischen 1800 und 1945, ausgespart (Erich Mendelsohns Einfluss auf das polnische Bauen, das Werk des in Mannheim (1912-14) und Gdynia (1927-29) wirkenden Architekten Adam Ballenstedt); Ausstellung und Katalog erfüllen hier nicht den selbstgestellten Anspruch. Überrascht dies ein wenig, so mehr (und bei genauerem Hinsehen doch wieder nicht) die nicht nur mit Kunstobjekten (wie dem „Heiligen Adalbert“, Balka 1987) und in Textbeiträgen, sondern dort auch mit Beispielen belegte Relativierung nationaler Mythen durch kommerzialisierte Events von heute. Dazu gehört etwa das jährliche massenspektakelige Nachspielen der im (bisherigen) polnischen Selbstverständnis tief eingegrabenen, weil gegen den Deutschen Orden 1410 gewonnenen Schlacht bei Tannenberg. Die Ausstellung dokumentiert hier, intendiert oder nicht, zugleich das langsame Verblassen nationaler Mythen im Kommerz. Wobei sich hier Besuchern und Lesern die Frage nach der Relation zwischen historischer Distanz und ihrer Ausformung im jeweils aktuellen nationalen historischen Gedächtnis stellt.
Die radikale Verkürzung auf das Wesentliche, die eine erfolgreiche Ausstellung ausmacht, scheint hier gelungen. Um die Existenz zweier Türen wissen wir nun, dass sie geöffnet wurden zeigt diese Ausstellung, sie weiter zu öffnen bleibt Aufforderung für die Zukunft.

Eine erste, handliche noch lieferbare Ãœbersicht zu diesem Thema, die auch die polnische Architekturgeschichte deutlich mit einbezieht, liegt bereits seit 1994 im Langewiesche Verlag vor.

Stefan Muthesius. Kunst in Polen - Polnische Kunst 966 - 1990. 108 S. 323 Abb. davon 121 fb., 21 x 17 cm, HC, EUR 19,80 ISBN 978-3-7845-7610-7; Englische Ausgabe : ISBN 978-3-7845-7611-4

Die Ausstellung läuft noch bis zum 9. Januar 2012.
12.11.2011
Wolfgang Schmidt, Berlin-Friedenau
Tür an Tür. Polen – Deutschland. 1000 Jahre Kunst und Geschichte. Ausstellungskatalog. Hrsg.: Omilanowska, Malgorzata. 700 S., 600 fb. Abb. Gb. DuMont Verlag, Köln 2011. EUR 39,95 CHF 54,00.
In polnischer Sprache: ISBN 978-3-8321-9400-0
ISBN 978-3-8321-9399-7
 
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