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Alle Bilder führen nach Rom. Eine kurze Geschichte des Sehens

Stefan Ritter, der in München Klassische Archäologie lehrt und das dortige Museum für Abgüsse Klassischer Bildwerke leitet, hat die römische Kunst beim Wort genommen: Mal mehr, mal weniger treffsicher vergleicht er ausgewählte Beispiele römischer Kunst mit zeitgenössischen Bildwerken, das heißt: mit Fotografien aller Art. Skeptikern sei gesagt, dass man dies ohne Weiteres machen kann, denn die Aufforderung hierzu liegt in der römischen Kunst selbst: In Wirklichkeit ist sie weniger Kunst als Mittel der kaiserlichen Propaganda, Identifizierungsangebot, Eigenwerbung bzw. Repräsentationsbild, und sie hatte eine gesellschaftspolitisch durchaus beabsichtigte Funktion. Während dies in Fachkreisen seit Langem bekannt ist, ist eine Arbeit wie die von Stefan Ritter, die eben diesen gesellschaftspolitischen Bezug plausibel und allgemein verständlich für ein nicht-akademisches Publikum aufzeigt, längst überfällig.

Die Fähigkeit des Sehens in unserer Kultur verkümmert immer mehr; je mehr Bilder uns überrollen, desto weniger "sehen" wir, sagt der Autor und macht aus seiner "kurzen Geschichte des Sehens" eine intensive Unterrichtseinheit des genauen und richtigen Betrachtens - nicht nur hinsichtlich der einzigartigen antiken Denkmäler, sondern auch der vermeintlich beliebigen Fotos unseres Medienalltags. Das A und O des Sehenlernens ist das Beschreiben; gar nicht so einfach, denn um "das zu beschreiben, was man sieht, ... muss man erst einmal die passenden Worte finden, und das kann recht mühsam sein." Aber auch gewinnbringend, wie jede/r weiß, die/der Klassische Archäologie studiert hat.

In drei großen Themenblöcken - Gesichter der Politik, Arbeit und Freizeit, Familie und Partnerschaft - setzt der Autor das römische Bildwerk dem modernen Foto entgegen: das Porträt des strengen M. Licinius Crassus und das des verschmitzt blickenden Vespasian einmal dem ernsten, dann dem lachenden Silvio Berlusconi; den Triumphzug des Titus dem "Bad in der Menge" von Gerhard Schröder und Jacques Chirac, aufgenommen am 7. März 2005 in Blomberg; das Grabrelief eines Fleischers aus dem Beginn des 2. Jahrhunderts der Werbeanzeige einer modernen Metzgerei aus dem Jahre 2004; die Statuengruppe eines Paares, die sich als Mars und Venus darstellen ließen, dem Foto der Schauspielerin ZsaZsa Gabor und Prinz Frederics von Anhalt, einem Prominentenpaar des Jet Set, und so weiter.

In diesen Gegenüberstellungen von Denkmal und Foto lernt man nicht nur das antike Bildwerk gründlich kennen, sondern auch das moderne Foto, dessen Beliebigkeit nur eine scheinbare ist: Während man bei dem Werbefoto ganz selbstverständlich davon ausgeht, dass es inszeniert ist, erwartet man das beim Pressefoto Schröder/Chirac oder Gabor/Frederic von Anhalt nicht; aber gerade die Zufälligkeit bzw. "Natürlichkeit" der jeweiligen Szene setzt ein hohes Maß an kompositorischer Professionalität des Fotografen voraus.

Wie der Schnappschuss einer Familienszene wirkt auch das Bild, das am 7. November 2000, dem Wahlabend des USA-Präsidentschaftswahlkampfes 2000, von George W. Bush mit Gattin und Eltern entstand. Dieser denkwürdigen Szene stellt Ritter keinen geringeren als Augustus, den ersten römischen Kaiser, mit seinem Adoptivsohn Tiberius gegenüber. Die Bildträger könnten nicht unterschiedlicher sein: hier die Gemma Augustea, eines der qualitätvollsten Werke antiker Steinschneidekunst, dort ein millionenfach kommuniziertes Foto. Auch das "Personal" ist höchst unterschiedlich: hier Göttinnen und Personifikationen, die Kaiser und Adoptivsohn bzw. Nachfolger begleiten und schirmen, dort Ehefrau und Eltern. Und dennoch: Wenn es auch dem Bild eines modernen Staatsoberhaupts an bildlicher Poesie fehlt, so der Autor, die Aussagen, Verschränkungen, Bewertungen der einzelnen Personen, ihre Kleidung, Gestik und Platzierung, selbst die Attribute - hier die Waffen unterworfener Feinde, dort die wie zufällig auf dem Tisch liegenden Bücher, deren Titel die Begriffe "hero" und "vision" beinhalten - sprechen eine identische Sprache: Deutlich wird auf Dynastie, Nachfolge, Tradition und Dauer verwiesen. (Dass Ritter es bedauert, dass heutige Staatsoberhäupter in Ermangelung an Göttinnen "nur auf die eigene Gemahlin zurückgreifen" können, ist hoffentlich ironisch gemeint.)

Solch ein Vergleich zwischen Damals und Heute ist spannend und hochinteressant. Doch Vorsicht vor einer Gleichsetzung! Wer nach der Lektüre meint, dass uns moderne Menschen von den Römern nur eine Spanne Zeit trennt, hat sich vor allem die römischen Politikerbildnisse nicht richtig angeschaut. Dass Kaiser Vespasian verschmitzt zu lächeln scheint, bildet die große Ausnahme; als römischer Politiker schaute man - im Gegensatz zu heutigen Dauergrinsern - ernst: "Wenn ein Römer heute plötzlich in einem Wahlkampf auftauchen würde und das Foto eines lachenden Politikers vor die Augen bekäme, würde er ausgesprochen irritiert sein. ... Wieso zeigt denn dieser Staatsmann seine Zähne? Will er beweisen, dass ihn die Natur mit einem ebenmäßigen Zahnbestand ausgestattet hat? Was veranlasst ihn zu diesem Heiterkeitsausbruch ... macht er sich etwa über mich lustig? ... Wie kann er sich bei derart unterentwickelter Selbstbeherrschung überhaupt Hoffnungen machen, in ein Amt gewählt zu werden? Will er vielleicht gar nicht in die Politik, sondern zum Beispiel ins Schauspielfach?"

31.3.2009
Daniela Maria Ziegler
Ritter, Stefan: Alle Bilder führen nach Rom. Eine kurze Geschichte des Sehens. 290S., zahlr. Abb. Klett-Cotta, Stuttgart 2009. Gb EUR 24,90
ISBN 3-608-94374-9
 
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