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Bilanz und Ziele europäischer Kulturpolitik

Kulturpolitisch wirkt die EU seit Ende der 1980er-Jahre auch durch Kulturförderprogramme wie „Kaleidoskop“ oder Kulturaktionen wie die „Kulturhauptstadt“. Letztere dürfte am bekanntesten sein, kaum allerdings das seit März 2008 gestartete Projekt „The European Year of intercultural Dialogue“. Politik bedarf einer rechtlichen Grundlage und diese schuf sich die Europäische Union mit dem Artikel 151 EG-Vertrag, um die Rahmenbedingungen für Kultur in Europa weiter zu verbessern. Auf Stärkung der Kultur in Europa zielt auch das von der EU verabschiedete „Kultur 2007 Programm“, das mit einer Gesamtsumme von 400 Mio. Euro bzw. einem jährlichen Budget von 57 Mio. Euro für die Kulturförderung in 27 Ländern ausgestattet wurde. Gemessen an nationalen Ausgaben für Kunst und Kultur ist das EU-Budget schmal bemessen. Auch dieser Punkt war Anlass über europäische Kulturpolitik und Kulturförderung in einem größerem Rahmen zu sprechen. Initiiert von Kulturpolitischer Gesellschaft, der Bundeszentrale für politische Bildung und der Friedrich-Ebert-Stiftung stand deshalb der vierte kulturpolitische Bundeskongress im Juni 2007 in Berlin unter dem Motto europäischer Kulturpolitik. Im Mittelpunkt stand die Frage, wie eine europäisch ausgerichtete Kulturpolitik auf kommunaler, regionaler, nationaler und europäischer Ebene strukturiert werden muss, um die kulturellen Ressourcen Europas stärker als bisher zu mobilisieren und zu nutzen. Verhandelt wurde dies unter dem Stichwort „aktivierende Kulturpolitik“. Mit nahezu 500 Teilnehmern aus 36 europäischen und außereuropäischen Staaten war dies einer der größten Kongresse zum Thema Kultur und Kunst in Europa. Damit sich Interessierte ein Bild von Fragestellungen, Debattenbeiträgen und Kontroversen machen können, wurden alle Beiträge unter dem Kongresstitel „kultur.macht.europa – europa.macht.kultur“ in einer Publikation dokumentiert, deren Aufbau sich an der Veranstaltungsstruktur orientiert. In sechs Panelen wurden grundsätzliche Fragen und in zwölf Foren Probleme und Perspektiven der Kulturarbeit in Europa diskutiert und das Layout setzte zur raschen Orientierung Namen und Funktion der Teilnehmer grafisch gut sichtbar ab.

1: Europäische Vielfalt im Themenspektrum des Kongresses

In ihrem Vorwort betonen die Präsidenten von Kulturpolitischer Gesellschaft, Oliver Scheytt, und Thomas Krüger von der Bundeszentrale für politische Bildung, etwas unglücklich „Kunst und Kultur“ hätten eine „unheimliche Macht“, aber in Europa seien sie noch zu sehr „eine heimliche Macht.“ Macht, so weiter die Beiträger, stecke „in den Künsten und der Kultur“ und sie seien geeignete Mittel, „Botschafter für die europäische Idee“ zu sein, da die Kraft Europas weniger aus der „einen Währung als vielmehr aus der kulturellen Vielfalt“ und der „Macht der Künste“ erwüchse. Abgesehen davon, dass in Europa nach wie vor mehrere Währungen existieren, kann von einer „europäischen Idee“ bislang keine Rede sein. Deutlich wurde das an den Debatten zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei, in denen stets auch das Selbstbild Europas zur Diskussion stand. Über das wirtschaftliche Zusammenwachsen hinaus, fehlt eine transnationale Vorstellung, was Europa ausmacht und die Bürger verbindet. Dies manifestiert sich nicht nur in Umfragen, sondern auch in einer jüngst vorgelegten erhellenden politologischen Studie von Frank Baasner zur Reichweite nationaler Europadiskurse und was Europa bedeutet und bedeuten soll. Von einer beträchtlichen Divergenz in den Europavorstellungen spricht Baasner ebenso wie eine Studie der Universität Tillburg (Niederlande) zu Wertvorstellungen. Für den EU-Kommissar für den Binnemarkt, Frits Bolkenstein ist daher klar, dass es keinen Sinn mache von einer „europäischen Identität“ zu sprechen, wenn es keinen europäischen Wertekanon gäbe. Wegen dieses Mankos sieht es Kulturstaatsminister Bernd Neumann als Aufgabe der EU an, dass sich Europa zunächst über gemeinsame kulturelle Wurzeln verständigen müsse, deren Fehlen wiederum den Schriftsteller Adolf Muschg nicht anficht, denn Vielfalt in der Kultur heißt für ihn Konflikt und Widerspruch. Mehr als einen Zwischenstand, dass über ein wesentliches Element, einen Kulturbegriff, wie zur Verhältnisbestimmung von Identität und Alterität, kein Konsens besteht, kann der Kongress daher auch nicht festhalten.

Unabhängig von den Panelen, die sich mit weiteren Themen wie 2) „Wo stehen wir? Auf dem Weg zu einer europäischen Kulturpolitik“, 3) „Kulturelle Öffentlichkeit tut not. Kultur im Kontext einer europäischen Kommunikationspolitik“, 4) „Kultur als Außenpolitik von Europa?“, 5) „Kultur und Wirtschaft – derselbe Kampf? Europäische Kulturvielfalt und global players“ und 6) mit „europa.macht.kultur – aber wie? Anforderungen an eine europäische Kulturpolitik der Zukunft“ beschäftigten, kristallisierten sich, auch in den Foren, kontrovers diskutierte Schwerpunkte heraus.

2: Ist-Zustand in den Kulturgebieten und der Kulturförderung

2.1. Kompetenzen und finanzielle Mittel

Die bisherige Kompetenzverteilung der öffentlichen Kunst- und Kulturförderung mit der Hauptzuständigkeit der Mitgliedsstaaten, bleibt erhalten, wie es im Art. 151 des EG-Vertrags festgeschrieben wurde, aber auch der EU werden damit kulturpolitische Kompetenzen zugewiesen. Die Besonderheiten des kulturellen Sektors wurde insofern berücksichtigt, als, anders in den übrigen Politikfeldern der EU, keine Harmonisierung zwischen den Mitgliedsstaaten angestrebt wird, der transnationale EU-Dialog soll nach der „Offenen Methode der Koordination“ stattfinden, die rechtlich allerdings, auch im Unterschied zu anderen Politikfeldern, keine bindende Wirkung entfaltet. Für direkte Kulturförderung stehen aus dem EU-Haushalt lediglich 0.03 Prozent zur Verfügung, indirekt fördert die EU Kunst und Kultur über diverse Strukturfonds, zu deren Programm Christine Wingert-Beckmann in einer Informationsveranstaltung im Forum 6 sprach. Insgesamt, so auch Bernd Neumann, verstärkten sich die kulturpolitischen Initiativen aus Brüssel und das sah Neumann kritisch.

2.2. Europäische Öffentlichkeit / Medienpolitik

Eines der großen Themen bezog sich auf eine europäische Öffentlichkeit, wobei dieses Thema wiederum eine wirtschaftliche Seite hat. Gottfried Langenstein, Präsident des Fernsehkulturkanals Arte, spricht zunächst ein wenig an den Ereignissen und Problemlagen in Europa vorbei, wenn er meint, in Europa sei es „gute und gesunde Tradition“, sich von Migration „bereichern zu lassen“. Als Beispiel nennt er die Künste und sieht dabei auf die Art Cologne. Die Welt der Gelehrten und Künstler kann aber keineswegs repräsentativ angesehen werden, zumal es nur dort seit dem Mittelalter eben jene viel beschworene gute Tradition ist, sich international zu organisieren und zu kommunizieren. Das zeigt sich auch im 20. Jahrhundert mit seiner Vielzahl von international operierenden Künstler- und Architektengruppen, die jüngst Christoph Wilhelmi untersuchte. Dazu zählen Initiativen des unlängst verstorbenen ‚Soziologen Pierre Bourdieu, europäisch angelegte Buchprojekte, wie die von Jacques Le Goff betreute Reihe „Europa bauen“, an dem mehrere Verlage, auf deutscher Seite C.H.Beck, beteiligt sind oder Zeitschriften wie Lettre International mit Büros in Prag und andernorts. Dies und mehr war aber nicht Langensteins eigentliches Thema. Er befasste sich vielmehr mit technischen und rechtlichen Rahmenbedingungen, um Kulturinhalte zu transportieren. Zwei Entwicklungen sprach Langenstein kritisch an. Zunächst ging es ihm um die vermeintlich für Kulturinstitutionen kostenfreie Digitalisierung ihrer Kunstschätze durch zwei US-amerikanische Mediengiganten, personifiziert an Paul Getty und Bill Gates. Als Gegenleistung lassen sich diese Konzerne die internationalen digitalen Rechte an den Kunstschätzen übertragen, was zur Folge hat, dass alle Nutzer Lizenzgebühren zu entrichten haben, unter Umständen betrifft dies sogar den eigenen Bestand. Von nicht minder großer Auswirkung sieht Langenstein ein Vorhaben der EU-Kommission an, europäische Sendefrequenzen auf internationalen Auktionen zu vermarkten, da auch hier eher die, im Verhältnis zu europäischen Bietern, finanziell potenteren US-amerikanischen Bieter zum Zuge kommen könnten und damit das europäische Modell mit starken öffentlich-rechtlichen Anbietern zur Disposition stehen könnte.

2.3. Wirtschaft und Kultur

In diesem Panel bzw. Forum wurde ein kulturpolitischer Klassiker gegeben, wer soll Kultur fördern, soll es mehr der Markt oder die öffentliche Hand sein? Wolfgang Thierse gab sich als Anwalt von öffentlicher Förderung und Kunst und Kultur, die darüber hinaus nicht vorrangig unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten, z.B. als „weicher“ Standortfaktor, betrachtet werden dürfe. Im Gegensatz zu Bolkenstein, der in der Globalisierung eher Chancen für Europa sieht, sieht Thierse eher auf deren Risiken, zumal er eine allgemeine Ökonomisierung von Kunst und Kultur bilanzierte und beklagte. Eine Bestandsaufnahme in diesem Bereich wurde nur in Ansätzen vorgelegt, allenfalls war davon die Rede, dass die Mehrheit der Künstler unter prekären finanziellen Verhältnissen jenen Stoff produziere, der auf den weiteren Stationen der Vermarktungskette ordentliche Gewinne abwerfe, ohne dass die Produzenten daran beteiligt wären. Nach einer Studie von 2004 arbeiten in Europa erwerbswirtschaftlich mehr als 5 Millionen im Kultursektor, der 2,6 Prozent zum europäischen Bruttoinlandsprodukt beiträgt. Neben den rein privatwirtschaftlich organisierten Sektoren wie Galerien und Buchhandel, wurde auch auf die zunehmende Bedeutung einer zivilgesellschaftlichen Fundierung des Kultursektors hingewiesen.

3: MaĂźnahmen und Ziele

Auch im Bereich des Stellenwerts einer europäischen Kulturpolitik konnte keine Einigung erzielt werden. Für eine Aufwertung treten Helga Tüppel als stellvertretende Vorsitzende des Kulturausschusses des Europäischen Parlaments und Max Fuchs vom Deutschen Kulturrat ein, ernteten aber dafür vom bayerischen Staatsminister Alfons Goppel Widerspruch, der anmahnte, vor einer Ausweitung der Programme und der Bereitstellung von finanziellen Mitteln müsse erst geklärt werden, „was man selber wolle“. Damit ist die Frage nach einem Leitbild aufgeworfen, eine Frage, die, sieht man auf die Beiträge, nicht wirklich als gelöst betrachtet werden kann. Insofern legt Goppel den Finger auf einen heiklen Punkt. Immerhin, unterhalb des Normativen, im Strategischen und Programmatischen, legte der Kongress einen ganzen Strauss von Förderungswürdigem in einem Maßnahmenkatalog vor, der sich an den allgemeinen Zielen der Kulturagenda orientierte:
1) Förderung der kulturellen Vielfalt und des interkulturellen Dialogs,
2) Förderung der Kultur als Katalysator der Kreativität und
3) Förderung der Kultur als wesentliches Element der internationalen Beziehungen der Union.
Dieser reicht von konzeptioneller Weiterentwicklung der Städtepartnerschaften, Förderung des interkulturellen Dialogs , Entwicklung von Innovationszentren, Qualifizierungen im Bereich europäischen Kulturmanagements, Beratungsagenturen für kreativ-kulturwirtschaftliche Unternehmen, Förderung des Kulturtourismus, Ausbau grenzüberschreitender Berichterstattung in Europa, Bestandsgarantien für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk, Neugestaltung des Urheberrechts, Reformen des Steuer- und Sozialversicherungsrechts für KünstlerInnen und Kreative, Unterstützung der Zusammenarbeit europäischer Kulturinstitute und vieles mehr.

4: Bilanz des Kongresses und Ausblick

Einer der wenigen, der auf dem Kongress von kultureller Bildung als integralem Bestandteil ganzheitlicher Bildung, an der alle Bürger teilhaben sollen, sprach, war Wolfgang Thierse. Europa, so kann man zusammenfassen, steht unter einem enormen ökonomischen Druck, der sich auch in der Zieldefinition wiederfindet. Im Zentrum steht eine funktionale Nutzung von Kultur, da sie benötigt werde, um die „Europäische Union zum >dynamischsten< und wettbewerbsfähigsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt“ weiter zu entwickeln. Kunst und Kultur erscheinen in dieser Perspektive nicht nur wichtig zur Herausbildung einer europäischen Identität, sondern auch als Kreativitätsreserve. Der Band dokumentiert die Vermessung der europäischen Kulturpolitik, benennt dessen Akteure, Institutionen, Organisationen und Fördermöglichkeiten. Im elften Forum „Netze knüpfen – Interessen bündeln, Kulturpolitische Interessenvertretung in Europa“ werden, neben den sogenannten Creative Industries, in der Stellungnahme von Ludwig Laher, dem Präsidenten des European Council of Artists, die Produzenten, Künstlerinnen und Künstler, angesprochen. Deren Interessenvertretung wurde abschließend nicht ausführlich behandelt. Hier stellen sich organisatorische Fragen, aber auch politologisch relevante Fragen nach der Mandatierung von Nicht-Regierungsorganisationen. Dieses Thema soll 2010 auf der Konferenz des „European Forum for Arts and Heritage“ und der Kulturpolitischen Gesellschaft nochmals diskutiert werden. Auch andere Punkte, insbesondere wie Europa auf die Interventionen US-amerikanischer Medienkonzerne antwortet, werden ob ihrer Brisanz für den auch ökonomischen Zugang zu europäischen Kulturschätzen sicherlich erneut verhandelt werden. Auch die unreflektierte Rede, dass wir in einer Wissensgesellschaft leben, müsste neu debattiert werden. Wird, wie auf dem Kongress, Kulturpolitik auch als Gesellschaftspolitik verstanden, dann muss Gegenstand der Debatte der Strukturwandel der europäischen, bisherigen, Industriegesellschaften sein, da ohne diese Komponente überhaupt nicht verstanden wird, was Wissensgesellschaft eigentlich bedeutet und welche Konsequenzen sich daraus im Alltag für die Bürger ergeben. Liest man überdies in den Anmerkungen zu den Debattenbeiträgen die bibliographischen Hinweise, so ist auffällig, dass vor allem Publikationen bei der Herausarbeitung des eigenen Beitrags rezipiert wurden, die dem eigenen kulturellen und kulturpolitischen Umfeld entstammen. Wichtige kultur- und sozialwissenschaftliche Forschungen zur Kultur von Migranten, zur Populärkultur, zur Kultur- und Wissenssoziologie, zu unterschiedlichen europäischen Lebensstilen oder zu Fragen kultureller Teilhabe finanziell Schwacher, werden nicht erwähnt. Insgesamt aber liegt aber nun erstmals eine vorläufige Bilanz vor, die auch kulturell Interessierten und politisch Verantwortlichen Möglichkeiten an die Hand gibt, Projekte von der EU fördern zu lassen. Insofern können Kulturmacher davon profitieren, auch wenn Kultur noch nicht Europa macht, Europa aber begonnen hat, etwas für Kunst und Kultur zu machen, um in Zukunft als Kulturmacht auftreten zu können.
3.6.2008

Sigrid Gaisreiter
Kulturpolitische Gesellschaft (Hrsg.) kultur.macht.europa – europa.macht.kultur. Dokumentation des vierten Kulturpolitischen Bundeskongresses. Texte zur Kulturpolitik Band 23. Kart., 334 S., Klartext, Essen 2008. EUR 16,00
ISBN 978-3-89861-942-7
 
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