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Künstlergruppen in Europa seit 1900

Bis auf einige Künstlergruppen, darunter "Die Brücke", steht die Erforschung des Phänomens Künstlergruppe am Anfang. Vermehrt traten sie seit 1900 auf. Ohne institutionelle Zusammenhänge erforschte der Privatgelehrte Christoph Wilhelmi in nahezu zwanzigjähriger Kleinarbeit das Netzwerk europäischer Künstlergruppen, die sich seit 1900 gründeten. Schon rein quantitativ, 16 000 Künstler in fast 1000 Gruppen erfaßte der Autor, überragt Wilhelmis Leistung alle Publikationen zum Thema. Noch den entlegensten Gruppen spürte Wilhelmi wie ein Detektiv nach. Er dokumentierte deren Genese und Mitglieder, forschte nach Zielsetzungen, Aktivitäten, schriftlichen Aussagen wie Gründungsdokumente und Periodika und packte das Material in drei, nach geographischen Gesichtspunkten unterteilte, Bände.

Jeder Band kann im dokumentarischen Teil als eine abgeschlossene Einheit angesehen werden, die jeweils vorangehenden ausführlichen Einleitungen aber sind bandübergreifend angelegt. Um Wiederholungen zu vermeiden, beginnt Wilhelmi im ersten Band mit Grundsätzlichem, in der Einführung zum dritten wird Bilanz gezogen, die Einleitung zum zweiten bespricht, da er osteuropäischen Formationen gilt, Wilhelmi ausführlich die kunstpolitische Lage und erzählt dabei von vielfältigen Restriktionen. Motiv und These bringt Wilhelmi bündig auf den Punkt, die Durchsetzung der künstlerischen Moderne steht ohne Kenntnisse des Sozialen auf tönernen Füßen. Kunstlexika verzeichnen Künstlervereinigungen ebenso marginal wie Monographien, Wilhelmis Lexikon schließt diese Lücke. In der Einleitung zum ersten Band skizziert er sein Vorhaben und nimmt Abgrenzungen vor. Nicht behandelt werden Künstlerkolonien, sie siedelten sich eher im ländlichen Raum an, nicht aufgenommen wurden Künstlervereinigungen, die qua Profession auf Kooperation angelegt sind und ebenfalls nicht berücksichtigt wurden reine Ausstellungsplattformen. Insgesamt, auch weil das Phänomen Gruppe soziologisch so eindeutig nicht zu fassen ist, geht Wilhelmi recht pragmatisch vor. Interessantes steht auch im Fazit. Antizyklisch zu sich in der ersten Hälfte im 20. Jahrhundert formierenden Nationalismen in Politik und Gesellschaft, herrschte unter Künstlern ein selbstverständlicher Internationalismus. Viele der Gruppen, man denke etwa an dadaistische, surrealistische, kubistische oder expressionistische Gruppen, waren in mehreren Ländern aktiv, standen untereinander in Kontakt, viele Künstler gar waren Mitglied in mehreren Gruppen. Spitzenreiter sind Jean/Hans Arp, der an 33, Wassily Kandinsky und Kurt Schwitters, die sich an 30 Gruppen beteiligten. Auch die heute viel gepriesene Interdisziplinarität war für sie selbstverständlich, sie organisierten sich berufsübergreifend. Räumlich entstanden Künstlergruppen vor allem in Städten, die bereits Sitz weiterer kultureller Institutionen waren. Man könnte hier von Clusterbildung sprechen, Künstlerkolonien dagegen speisten sich aus ins Ländliche abgewanderten Großstädtern. Auch wenn Wilhelmi den Anteil von Avantgardisten innerhalb der künstlerischen Moderne nicht schmälern will, sichtbar wird doch, das Monopol bei der Erfindung der Moderne können Pablo Picasso, Paul Cézanne oder Henri Matisse nicht beanspruchen, die Durchsetzung der Moderne gelang als kollektive Aktion. Nach 1945 knüpften die Künstler, ehe Europa ein politisches Projekt wurde, an die Vorkriegstraditionen an. So trägt die Gruppe der Internationalen Situationisten die internationale Organisationsform schon im Namen, weitere bekannte Beispiele ist die Gruppe Zero, Cobra etablierte sich in drei Ländern und so könnte man fortfahren. Sehr informativ gestaltet Wilhelmi auch den Teil in den Einführungen, wo er, aufgeschlüsselt nach Ländern, auf deren jeweilige kunstgeschichtliche Situation eingeht.

Der dokumentarische Teil wurde einheitlich alphabetisch aufgebaut und jede Gruppe erhält eine laufende Nummer. Alle nicht lateinisch geschriebenen Namen werden umgeschrieben, teilweise dazu noch deutsch untertitelt. Danach erfolgen Hinweise zur Existenzdauer und Gründungsort, Namensvarianten werden aufgeführt. Der darauffolgende Kurztext gibt alle wichtigen Hinweise zur Genese, zur Stärke der Formation, benennt Ziele, Aktivitäten und Aussagen der Gruppen. Daneben macht Wilhelmi noch Angaben zu formalen und inhaltlichen Aspekten der Kunst und verweist auf Kooperationen mit anderen Gruppen. Neben den Lebensdaten versieht Wilhelmi in der nun folgenden alphabetischen Liste der Gruppenmitglieder alle, bis auf Maler und Graphiker, mit Angaben zu deren Profession.
Der dokumentarische Teil endet mit Literaturhinweisen und in einigen Fällen werden die Signets der Gruppen abgebildet. Im nun folgenden dritten Teil sortiert Wilhelmi die Gruppen nach Ländern, ein Register der Übersetzungs- und Transkriptionsvarianten vervollständigt den Apparat, der auch Namenregister der Künstler enthält.

Wilhelmis Anspruch ein Findebuch zu europäischen Künstlergruppen des 20. Jahrhunderts vorzulegen, ist mustergültig eingelöst. Kaum vorstellbar, knapp berichtet Wilhelmi von den Problemen bei der Materialbeschaffung, sind die Schwierigkeiten, vor die sich der Autor gestellt sah. Erstmals erkennbar wird ein europäisches Netzwerk künstlerischer Gruppen und der Autor leistete für die Kunstgeschichte Grundlegendes. So viel ist sicher, es entstand ein Standardwerk, für das sich der Verlag Dr. Ernst Hauswedell & Co. begeisterte. In Zukunft wird man vom "Wilhelmi" sprechen, eine kunsthistorische und kulturpolitische Großtat von europäischem Format.
3.9.2007

Wilhelmi, Christoph: Künstlergruppen. In Deutschland, Österreich und der Schweiz seit 1900. Ein Handbuch. 1996. XII, 432 S.,64 Abb. 24 x 16 cm. Hauswedell, E., Stuttgart 1996. Ln EUR 98,00 ISBN 3-7762-0400-1

Wilhelmi, Christoph: Künstlergruppen im östlichen und südlichen Europa seit 1900. Ein Handbuch. 06.2001. XIV, 617 S., 30Abb. 24 x 16 cm. Hauswedell, E, Stuttgart 2001. Ln EUR 98,00 ISBN 3-7762-1101-6

Christoph Wilhelmi (2006) Künstlergruppen in West- und Nordeuropa einschließlich Spanien und Portugal seit 1900. Stuttgart. geb., 728 S., s/w Abb., ISBN: 3-7762-1106-4. € 198. Verlag Dr. Ernst Hauswedell & Co.
Wilhelmi, Christoph: Künstlergruppen in West- und Nordeuropa einschließlich Spanien und Portugal seit 1900. Ein Handbuch.16.10.2006. LXII, 728 S., Mit 79 Abb. - 24 x 16 cm. 1520g. 'Hauswedell, E. Stuttgart 2006. Ln EUR 198,00 ISBN 3-7762-1006-0
Band 1-3 komplett: ISBN: 3-7762-1106-7




Sigrid Gaisreiter
Wilhelmi, Christoph: Künstlergruppen in West- und Nordeuropa einschließlich Spanien und Portugal seit 1900. Ein Handbuch. LXII, 728 S., 79 Abb. 24 x 16 cm. Hauswedell, Stuttgart 2006. Ln. EUR 198,00
ISBN 3-7762-1006-0
 
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