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Museum der Unerhörten Dinge

„Es gibt vielleicht zwei Arten von Büchern“, schrieb Walter Benjamin 1940 über ein Buch, Le regard, des späteren Direktors der Musées de France Georges Salles. Benjamin unter-schied in seinem Artikel Bücher die zeigen von jenen die schenken. „Derjenige“, so Benjamin weiter, „der Ihnen etwas zeigt, weiht sie in eine bestimmte Weltsicht ein. Er wird Ihnen, ob er will oder nicht, als Überlegener erscheinen. Derjenige, der Ihnen etwas schenkt, kann dahinter verschwinden. (Schenken ist eine Art, sich entbehrlich zu machen.)“ Roland Albrecht (*1950) ist, ohne mit Georges Salles verglichen werden zu können, ebenfalls Direktor eines Museums, des in Berlin in der Crellestraße ansässigen Museums der Unerhöhrten Dinge und er schenkt uns ein jüngst im Wagenbach Verlag erschienenes Buch, das den gleichen Titel wie sein Mu-seum trägt und einen Teil der Sammlung vorstellt. Es handelt sich dabei um eine Sammlung mit, wie es heute so schön heißt, Event-Charakter, ohne ihn jedoch aufwendig zelebrieren zu müssen. In jahrelanger Feinarbeit trug Albrecht ein Archiv wundersamer Dinge zusammen, eine Sammlung, die von einer besonderen Aura umgeben ist, denn es handelt sich um Artefakte, die sonst nicht als sammlungswürdig gelten, kleine abgelegte randständige Dinge, die als Sammelsurium präsentiert werden. Damit unterläuft Albrecht die in Museen übliche Klassifikation, das System steht Kopf. Jedes dieser auf den ersten Blick unscheinbaren Dinge, so etwa eine Rose, ein Stein, ein Stück Baum oder Film, ein Edelweiß oder ein Stück Schreib-maschine hat eine Geschichte und Albrecht macht daraus Geschichten um deren Geschichte. Vierundzwanzig Mal haben wir das Vergnügen einer amüsanten Unterhaltung. Albrecht ver-meidet dabei Stoffliches in den Vordergrund zu rücken, vielmehr stehen die Dinge gleichwertig neben dem über sie Erzählten. Albrecht steht mit seinem Museum des Randständigen in der Tradition der Wunderkammern und Kuriositätenkabinette und damit selbst am Rand, denn die Moderne und die damit einhergehende Verwissenschaftlichung verdrängte das Wunderbare, Kuriose. Das gleichrangige Nebeneinander hybrider Objekte, Kennzeichen der Kuriositätenkabinette, wich, beginnend mit der Aufklärung, der Hierarchisierung, Spezialisierung und methodisch kontrollierter Erschließung. Patrick Mauries (*1952) hat diesen Prozess in seiner Arbeit Das Kuriositätenkabinett schrittweise induktiv nachgezeichnet und dabei eine Fülle ausgebreitet, die ihresgleichen sucht. Mauries beginnt mit den Vorläufern europäischer Kunst- und Wunderkammern, den Reliquienschätzen des Mittelalters, gelangt über die Hochzeit der sich im 17.Jahrhundert zu Kuriositätenkabinetten wandelnden Wunderkammern zum Nieder-gang dieser Formen mit der beginnenden Aufklärung. Für Dadaisten und Surrealisten werden diese Kuriosa zu Inspirationsquellen ihrer Kunst. André Bretons Sammlung wird ebenso ge-zeigt, wie das Weiterleben der Kuriositätenkabinette im Musée Sentimental des Daniel Spoer-ri oder in Joseph Cornells box assemblage. Der zeitgenössische Wiedergänger des Außerge-wöhnlichen im Gewöhnlichen und der Verblüffung aber, das ist heute einzigartig, schreibt zu seinen mittlerweile 300 Artefakten, selbst Geschichten, Hybride auch sie, denn Wahres und Erfundenes gehen auf der Seite der Literatur eine ebenso unauflösliche Liaison ein, wie sich Artefakt und Literatur zum Gesamtkunstwerk verdichten, eine für André Breton noch selbst-verständliche Sicht. Dessen Vorgänger wiederum, das erfährt man auch bei Mauries, der Schriftsteller Horace Walpole, setzte sein literarisches Kuriositätenkabinett Die Burg von Otranto in neugotische Architektur um. Diese Zeiten sind jedoch vorbei und bei Albrecht kommt, in Umkehrung zu Walpole, zunächst das Objekt und dann die Geschichte. Aber schön ausgestattet ist seine literarische Wunderkammer allemal. Wagenbach spendierte Albrechts Reich der Verwunderung und Normverletzung das entzückende rote Kleid der Salto-Reihe. Eine der Fußnoten der Moderne, endlich anerkannt als pièces de délicatesse zum plaisir für alle, die offen sind für die Quelle der Wunder und sich gern zeitweise ins absolute Anderswo begeben möchten.
3.7.2005
Sigrid Gaisreiter
Albrecht, Roland: Museum der Unerhörten Dinge. 120 S., zahlr. Abb. (Salto ) Ln., Wagenbach, Berlin 2005. EUR 12,90
ISBN 3-8031-1227-3
 
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