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Die großen Kathedralen. Gotische Baukunst in Europa.

Mit Interesse werden Leser und Leserinnen zur vorliegenden Publikation über fünfzehn europäische Kathedralen der Gotik greifen, lässt der Titel doch eine leicht lesbare Darstellung vermuten, die zugleich tief in die Kathedralbaukunst Europas einführt. Eine solche hinführende Beschreibung des Phänomens der Gotik, die sich aus der Fülle der entsprechenden Literatur deutlich herausheben müsste, ist wünschenswert, angesichts der im Jahre 1999 im selben Verlag erschienenen Monografie „Was ist Gotik?“ von Günther Binding aber gewiss kein einfaches Projekt. Auch dürfte die Auswahl der einzelnen Bauten nicht leicht gefallen sein. Vergleicht man den vorliegenden Band mit jener materialreichen Studie von Günther Binding sowie anderen Veröffentlichungen des Primus Verlags zur Architektur des Mittelalters, so wird der vom Herausgeber Uwe Oster mit dem Buch „Die großen Kathedralen“ verfolgte Ansatz deutlich. Das Werk richtet sich an alle an der Gotik Interessierten, die sich fundiert, jedoch nicht zu speziell mit dem Thema befassen möchten.
„Die großen Kathedralen“ sind übersichtlich strukturiert. Jede der Kathedralen in den Städten Chartres, Bourges, Reims, Paris, Straßburg, Köln, Freiburg, Regensburg, Wien, Prag, Canterbury, Lincoln, Salisbury, Mailand und Toledo wird unter dem Gesichtspunkt ihrer Baugeschichte, im Rahmen eines virtuellen Rundgangs sowie im Hinblick auf ihre Bedeutung im Kontext der Gotik betrachtet. Die Texte stammen von drei Autorinnen und vier Autoren, wobei diejenigen von Christian Freigang über die Kathedralen in Chartres, Bourges, Reims und Paris durch ihren weitsichtigen Duktus positiv auffallen. So heißt es etwa einmal treffend: "Die Kathedrale von Bourges gemahnt zur Vorsicht vor zu einfachen Vorstellungen von der Kathedralgotik" (S. 38). Auf eine kurze, allgemein gehaltene Einführung von Uwe Oster folgt, sozusagen als inhaltliche Klammer für die einzelnen Kathedralen-Porträts, der an Fakten reiche, sehr dichte Text "Gedachte und gebaute Architektur. Die gotische Kathedrale" (S. 11-18) von Günther Binding. In ihm wird der Leser auch über einige Zitate mittelalterlicher Autoren mit der Mentalität so vertraut gemacht, die zum Verständnis gotischer Baukunst unerlässlich ist.
So weit, so gut. Bei der weiteren Lektüre ergeben sich dann jedoch einige Fragen. Dass die Kathedrale von Saint-Denis - obzwar Abt Suger in der Einführung zur Recht ausführlich thematisiert und sogar gezeigt wird (freilich ohne den interessanten Befund, dass er sich an seiner Kirche vermutlich sieben Mal hat abbilden lassen) - keine eigene Darstellung gefunden hat, erstaunt. Die Auswahl der behandelten Bauten wirft Fragen auf und befriedigt letztlich nicht wirklich. Zwar werden weithin bekannte Bauwerke vorgestellt, doch wird über diese Beispiele die "Gotische Baukunst in Europa" (Untertitel) nur bedingt fassbar. Warum wurde der Magdeburger Dom nicht behandelt (wie auch der in Naumburg und Halberstadt), obschon die meisten der vorgestellten Kathedralen französische Bauten zum Vorbild haben, wie einleitend (S. 9) explizit betont wird? Warum wurde keine Übersichtskarte geliefert? Und, darf man die nordeuropäische Backsteingotik wirklich außen vor lassen (zum Beispiel: den Havelberger Dom)?
Die in Kästen hervorgehobenen zusätzlichen "Informationen und Tipps" (S. 10) stören durch ihre graue Unterlegung den Leser bei der Lektüre und würden ihre Funktion - ans Ende der Aufsätze gestellt und in einer Schriftgröße wie im Glossar (S. 169-174) gesetzt - zweifellos besser erfüllen (zwingend erforderlich erscheinen sie mir nicht). Darüber hinaus wäre es nützlich gewesen, die in den Rundgängen angebotenen Wege zur Besichtigung der Kirchen in die entsprechenden (leider zu kleinen) Grundrisse farbig einzutragen und darüber hinaus dem Band ein Register (über das in den Texten erwähnte Kathedralen schnell aufzufinden wären) anzufügen. Im Fall der Kathedrale von Chartres fehlt der Hinweis auf "das größte noch erhaltene Kirchen-Labyrinth" (Hermann Kern, Labyrinthe. 4. Auflage, München 1999, S. 225), das beispielweise schon in der Monografie von Emile Mâle (Paris 1983) über diese vielleicht bedeutendste aller französischen Kathedralen im Grundriß (S. 178 der deutschen Ausgabe) eingezeichnet ist (im Literaturverzeichnis wird dieses Werk nicht aufgeführt). Sehr schmerzlich ist das Fehlen der wichtigen Kathedrale von Laon - man betrachte dazu einmal in der an ein ähnliches Publikum wie „Die großen Kathedralen“ gerichteten Publikation von Hervé Kergall „Gotische Kathedralen und Kunstschätze in Frankreich“ (Eltville am Rhein 1990) die entsprechende Abbildung der Doppeltürme der Westfassade mit den brühmten Ochsen (S. 19). Im Bezug auf das Verzeichnis der weiterführenden Literatur ist auch anzumerken, dass der Leser natürlich "keine umfassende Bibliographie" (S. 175) erwartet, allerdings schon die aus der Sicht der Autorinnen und Autoren besten Titel zum Thema (so vermisst man etwa: Günther Binding / Andreas Speer [Hrsg.]: Mittelalterliches Kunsterleben nach Quellen des 11. bis 13. Jahrhunderts. Stuttgart 1993 oder Frank Teichmann: Der Mensch und sein Tempel: Chartres. Schule und Kathedrale. Stuttgart 1991).
Wirklich aufregend und sogar atemberaubend in Annäherung und Vermittlung sind “Die großen Kathedralen“ nur sehr selten, etwa dann, wenn der Blick in den Turmhelm des Freiburger Münsters geht (S. 83), das Auge in die Vertikale hinauf in das einzigartige Fächergewölbe in der Westvierung der Kathedrale von Canterbury wandert (S. 124 ) oder in die Weite des Langhauses derselbe Kathedrale von Osten (Gott) nach Westen (Welt) schweift (S. 125). Auch die Aufnahme der Westfassade in Reims von innen überzeugt (S. 45). In solchen Augenblicken wird die Gotik, ja die Idee derselben nicht bloß intellektuell, sondern vielmehr auch im Erleben für den Leser zur Frage. Und genau hier begänne ein solcher einführender Band über gotische Kathedralen erst richtig zu sprechen!
Ansonsten gilt leider das, was Gervasius von Canterbury über den Wiederaufbau des Chores der Kathedrale von Canterbury nach dem Brand im Jahre 1174 in seinem Bericht über diese Ereignisse erklärte: "Dies alles erkennt, wer es verstehen will, durch eigene Anschauung noch besser als durch Lesen" (zitiert nach: Werner Schäfke, Englische Kathedralen. Köln 1983, Klapptext vorne). Das ist schade, denn als Leser dieses Bandes hätte ich mir gewünscht, eben viel öfter bis dicht an diesen Punkt der eigenen Anschauung geführt zu werden. Es gibt Passagen in dem Werk, die erahnen lassen, was möglich gewesen wäre, hätte man es verstanden, das lohnenswerte Konzept des Herausgebers konsequent umzusetzen.
Die hier vorgebrachte, zugegebenermaßen harte Kritik richtet sich nicht gegen die in den fünfzehn Texten gelieferten wichtigen Informationen, die im Sinne eines komprimierten Abrisses der Baugeschichte der jeweiligen Kathedralen zweifellos von Nutzen sind. Nur will eben so recht keine wirkliche Freude bei dem Lesen aufkommen. Es wäre schön, wenn der Verlag sich dazu entschlösse, das Konzept dieses Bandes künftig aufzugreifen - in überarbeiteter Form und dann mit vielleicht sogar bis zu fünfzig verschiedenen Bauten aus ganz Europa sowie vergleichender Fokussierung auf einzelne für die Gotik konstitutive Elemente. Der Markt dafür ist da.
26.3.2004
Matthias Mochner
Die grossen Kathedralen. Gotische Baukunst in Europa. Hrsg.: Oster, Uwe A. 176 S. 100 meist fb. Abb. 27 cm. Gb. Primus, Darmstadt 2003. EUR 29,90
ISBN 3-89678-240-1   [Primus]
 
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