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Kunst und Leben 1918 bis 1955

2029 wird die Städtische Galerie im Lenbachhaus ihr 100-jähriges Bestehen als Kunstmuseum der Landeshauptstadt München begehen. Ihrer eigenen Geschichte widmet sie sich in einer Serie von Ausstellungen bereits im Vorfeld des Jubiläums. Die derzeitige Schau und der begleitende Katalog »Kunst und Leben 1918 bis 1955« fokussieren die Biografien von 50 in der Sammlung vertretenen Künstler:innen. Die meisten von ihnen waren in der Weimarer Republik, während des Nationalsozialismus und in der frühen Bundesrepublik tätig. Der Beginn der ersten deutschen Demokratie und die erste documenta begrenzen als bedeutende (kultur)politische Zäsuren den gewählten Zeitraum. Ausgehend von der Ausstellungs- und Sammlungsgeschichte des Museums gehen die Kuratorinnen Karin Althaus, Sarah Bock, Lisa Kern und Melanie Wittchow (zugleich Herausgeberinnen des Katalogs) der Frage nach, »wie Kunst mit Zeitgeschichte, Politik und Lebensumständen zusammenhängt« (S. 12).

Der im Deutschen Kunstverlag erschienene, reichbebilderte Katalog versammelt im ersten Abschnitt einleitende Worte der Herausgeberinnen, einen einführenden Essay des Kunsthistorikers Christian Fuhrmeister und eine Liste von Ausstellungen, die in der Städtischen Galerie bis 1955 zu sehen waren. Fuhrmeister fragt in seinem Beitrag programmatisch, wie ein möglichst ganzheitlicher (wissenschaftlicher) Umgang mit Kunst denkbar wäre. Er eröffnet ein breites Panorama an zu berücksichtigenden Faktoren, zu denen die Künstler:innen und ihre individuellen Handlungsspielräume zählen, aber darüber hinaus: sammelnde, handelnde und ausstellende Institutionen, Organisationsformen von Künstler:innen, Prozesse der Kunstproduktion und -distribution, politische und soziale Machtverhältnisse, andere Akteur:innen wie Wissenschaftler:innen, Mäzen:innen oder Kritiker:innen. Schließlich plädiert Fuhrmeister für ein »relationales Verständnis der Kunstszene« (S. 26), das also die Wechselwirkungen dieser vielfältigen Faktoren im Blick behält.

Den Kern des Katalogs bilden 50 Künstler:innenbiografien. Die von den Kuratorinnen und Gastautor:innen anregend verfassten Beiträge fokussieren die zeithistorischen Rahmenbedingungen der künstlerischen Produktion, vielfach mit einem expliziten Bezug zu München. In alphabetischer Reihenfolge fächern die Beiträge ein breites Spektrum an Lebensverläufen in einem von politischen Systemwechseln geprägten Zeitraum. Neben bekannten Künstlern wie Rudolf Belling, George Grosz, Paul Klee, Franz Radziwill oder Christian Schad stellt der Band auch weniger bekannte oder ganz in Vergessenheit geratene Künstler:innen vor. Zu den letzteren zählt die neusachliche Malerin Käte Hoch, deren Selbstbildnis von 1929 das Buchcover ziert. Trotz ihrer reichen Ausstellungsaktivitäten in den 1910er- und 1920er Jahren wurde ihr in der Forschung lange keine Aufmerksamkeit geschenkt.

Viele der vorgestellten Lebenswege waren während der nationalsozialistischen Diktatur von Verlust und Verfolgung geprägt. Ein besonderes Anliegen der Kuratorinnen ist es, die im Holocaust ermordeten Künstler:innen Otto Freundlich, Marie Heilbronner, Moisey Kogan, Rudolf Levy, Maria Luiko und Charlotte Salomon zu repräsentieren. Trotz Flucht und Verstecken schuf die Malerin Salomon noch während des Zweiten Weltkriegs ihren hochkomplexen autobiografischen Zyklus »Leben? oder Theater?«.

Jene Künstler:innen, die dem NS-Regime imponieren wollten, nimmt der Band ebenfalls in den Blick. So stellt er mit Hermann Tiebert einen Maler vor, der besonders während der NS-Zeit mit Ausstellungsbeteiligungen, Verkaufserfolgen und der Aufnahme in die »Gottbegnadeten-Liste« Anerkennung genoss; der Beitrag erinnert aber auch daran, dass er nach 1945 ebenfalls Bewunderung und Kund:innen fand. Sympathien für die NS-Politik allein garantierten aber noch keinen Erfolg: Vergebens bemühte sich die Malerin Emilie von Hallavanya ungeachtet ihrer anschlussfähigen Motive und Malweise um nennenswerte Verkäufe; trotz einiger Beteiligungen an den »Großen Deutschen Kunstausstellungen« ging sie leer aus und zog sich allmählich aus dem Kunstbetrieb zurück.

Die Unzulänglichkeit der Kategorien »für« und »wider den NS« verdeutlicht der Band an einer ganzen Reihe von Biografien. So thematisiert der Katalog am Beispiel des Malers Christian Schad, dass er ab den 1980er Jahren als der »große Unangepasste« galt, obgleich er im März 1933 der NSDAP beigetreten war und auch seinen malerischen Ausdruck fortan an einem konservativeren Kunstgeschmack ausgerichtet hatte. Damit nimmt der Band implizit auch die veränderte Perspektive der Kunstgeschichte vom Objekt zum Subjekt und deren Sensibilisierung für uneindeutige, auch unangenehme, Phänomene in den Blick.

Besonders spannend wird die Lektüre dann, wenn die Beiträge Begegnungen und Beziehungen zwischen den vorgestellten Künstler:innen thematisieren. So verbindet die Maler Karl Caspar und Hermann Kaspar nicht nur der phonetisch gleichklingende Name, sondern auch eine Professur und die Frage nach den kulturpolitischen Kontinuitäten über die vermeintliche Zäsur des Jahres 1945 hinweg: Der jüngere Kaspar wurde 1938 als Caspars Nachfolger an die Akademie der Bildenden Künste München berufen. Zuvor waren Caspar und seine Ehefrau, die Malerin Maria Caspar-Filser, auf der Münchener Ausstellung »Entartete Kunst« öffentlich diffamiert worden. In der Bundesrepublik intervenierte das Künstlerehepaar mehrfach gegen Kaspars erneute Etablierung im Kunstbetrieb trotz seiner prominenten Rolle vor 1945. Seine Professur konnte der letztere aber behalten.

Im letzten Teil des Katalogs vertieft eine Art Themenglossar einige für die künstlerischen Lebensverläufe relevanten Aspekte. Die Themen sind vielfältig und betreffen die Künstler:innenausbildung und -vereine, Münchener Ausstellungsformate im besprochenen Zeitraum, Fragen der nationalsozialistischen und der Nachkriegs-Kulturpolitik. Wahre Schätze für die weiterführende Forschung sind in den Anmerkungen zu entdecken – sowohl in den Biografien als auch in den hier zusammengetragenen Themen – die nicht nur auf Grundlagenliteratur, sondern insbesondere auf archivarische Quellen verweisen. Spätestens mit einem Blick in die Anmerkungen werden die intensiven archivarischen Recherchen der Autor:innen evident.

Damit ist der Katalog ein praktisches, kompaktes Nachschlagewerk für eine erste Beschäftigung mit den darin vorgestellten Künstler:innen – insbesondere mit jenen, zu denen sonst kaum Literatur existiert. Implizit entpuppt sich der Band zudem aber auch als Wegweiser für Forschungsdesiderate. Dort, wo die Autor:innen auf abgeschlossene (teils ihre eigenen) Forschungsvorhaben zurückgreifen können, tragen sie einen wertvollen Informationsschatz in einem kompakten Format zusammen. Vielfach begeben sie sich aber auf unbekanntes Terrain, da diverse der vorgestellten Künstler:innenbiografien und Themen nicht systematisch erforscht sind. Sie zeigen: Es gibt noch viel zu tun.

28.02.2023
Darja Jesse
Kunst und Leben 1918 bis 1955. Hrsg.: Althaus, Karin; Bock, Sarah; Kern, Lisa; Mühling, Matthias; Wittchow, Melanie. 400 S. 180 fb. Abb. 24 x 17 cm. Deutscher Kunstverlag, Berlin 2022. EUR 58,00.
ISBN 978-3-422-99066-1
 
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