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Gustav Vriesen und die Entdeckung der Moderne

Der Siegeszug von moderner und zeitgenössischer Kunst – vom ‚Kampf um die Moderne’ um 1900 bis zum Hype um die junge Kunst auf Messen, Auktionen und in den Museen für zeitgenössische Kunst – gehört zu den spannendsten Erzählungen der neueren Kunstgeschichte. Zu Recht sind daher in den letzten Jahrzehnten zahllose Monografien zu den Promotoren der Moderne in den Museen der Vorkriegszeit erschienen: Über das Wirken von Alfrecht Lichtwark, Hugo von Tschudi, Gustav Pauli, Max Sauerlandt, Ludwig Justi und Alexander Dorner sind wir somit gut informiert. Doch wie gelang der Anschluss an die Moderne nach dem Ende der Nazi-Diktatur und des Zweiten Weltkriegs? Und wer waren die Protagonisten dafür in der frühen Nachkriegszeit und der jungen Bundesrepublik?
Hierfür beginnt sich nun endlich das Interesse der Fachdisziplin zu regen: Über die Wandlung des Kunsthistoriker Werner Haftmann vom NSDAP-Mitglied und Mitglied der nationalsozialistischen Spionageabwehr zum Ideengeber der ersten documenta wird leidenschaftlich gestritten. Die Ruhrgebietsstadt Gelsenkirchen organisierte über die „Gleichzeitigkeit von Innovation und Kontinuität deutscher Kunstpolitik nach 1945“ jüngst eine Tagung, und das Hagener Osthaus-Museum widmete den Wiederaufbaujahren unter der legendären Museumsdirektorin Herta Hesse-Frielinghaus in diesem Sommer eine instruktive Ausstellung, zu der nur leider keine Publikation erschien.
Im selben Jahr 1912 geboren wie Werner Haftmann und zwei Jahre jünger als Hesse-Frielinghaus war der Kunsthistoriker Gustav Vriesen, der zu den fast vergessenen Mentoren der Moderne in der frühen Nachkriegszeit und den Gründerfiguren der heutigen Kunsthalle Bielefeld zählt. Alle drei verbindet, dass ihnen das Engagement für die Moderne nicht in die Wiege gelegt war, sondern sie vor 1945 im Dienste nationalsozialistischer oder zumindest ‚gleichgeschalteter’ Institutionen standen. Vriesen hatte u.a. bei dem linientreuen Wilhelm Pinder in München studiert und seit 1936 als wissenschaftlicher Assistent am Oldenburger Landesmuseum gearbeitet, wo er die Ausstellung „Der deutsche Mensch in 1000 Jahren Bildniskunst“ konzipierte. Gleichwohl verschrieb er sich bereits ab Oktober 1945 mit Leidenschaft der Kunst der Gegenwart und forderte, „nach dem totalen Zusammenbruch der nationalsozialistischen Welt neue Grundlagen für unser geistiges Leben“.
Von Oldenburg wurde er schließlich 1954 zum Direktor des Städtischen Kunsthauses Bielefeld berufen, wo er sich unmittelbar sowohl für die einst verfemte Kunst der Expressionisten wie auch für die internationale Bildsprache der Abstraktion einsetzte.
Das für das Bielefelder Kunstforum Hermann Stenner als ausstellungsbegleitende Publikation realisierte Buch ist die erste umfangreichere Studie über den faszinierenden Kunsthistoriker und illustriert dessen Lebenslauf und Lebensleistung vor allem durch seine Künstlerkontakte und Erwerbungen für Bielefeld. Eine noch in Arbeit befindliche Dissertation von Maja Jakubeit verspricht darüber hinaus weitere Erkenntnisse über die Frühzeit des Kunsthistorikers und schließlich die faszinierende Zeit seiner Wandlung vom Saulus zum Paulus. Es ist zu hoffen, dass nach der Fixierung der letzten Jahrzehnte auf die Moderne der Weimarer Republik weitere Studien über die verschlungenen Lebensläufe der Vermittlerinnen und Vermittler der Moderne in der frühen Bundesrepublik erscheinen werden. Mit den Arbeiten über Leopold Reidemeister, Werner Haftmann und Gustav Vriesen ist ein vielversprechender Anfang gemacht.

05.08.2022
Rainer Stamm
Gustav Vriesen. Und die Entdeckung der Moderne in Bielefeld. Hrsg.: Heuwinkel, Christiane; Jakubeit, Maja; Stenner, Kunstforum Hermann; Wagner, Christoph. Deutsch. 204 S. 130 fb. Abb. 23 x 18 cm. Hirmer Verlag, München 2022. EUR 32,00. CHF 39,00
ISBN 978-3-7774-3886-3
 
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