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Die Kunst nach dem Ende ihrer Autonomie

2002 traten die beiden Künstler Samuel Borkson und Arturo Sandoval erstmals öffentlich in Erscheinung: mit ihrem neuartigen Kunst-Label „FriendsWithYou“ und ihrem Projekt „Little Cloud“ gelang ihnen ein neuartiges, global unmittelbar ansprechendes Format, das weder ein reines autonomes (Kunst-)werk noch ein visuell relativ banales Marketingkonzept sein wollte: eine rundlich-breite symmetrische Form, die als weiße Wolke zu einem sympathischen Gesichts-Logo abstrahiert für vielfältigste Funktionen und Assoziationen genutzt werden kann. Bis heute operiert es erfolgreich in unterschiedlichsten Medien und Materialien wie eine hybride soziale Plattform, die permanent zwischen Kunst und Konsum, zwischen spontaner Rezeptionslust und anwendbarem Warenschein oszilliert. Was vor 20 Jahren - zum beginnenden Ende der Postmoderne - noch eine fremdartige Innovation war, dient heute Wolfgang Ullrich als ein herausragender Beleg seiner These nach der die einst autonomen Kunstwerke heute zu post-autonomen Realisaten geworden sind: ein visuell vieldeutiges verwendbares Waren-Lustobjekt: in Ullrichs unmittelbar einleuchtendem Perspektivwechsel ein Musterbeispiel für einen post-autonomen, spielerischen Umgang mit heute beliebten „Art-Toys“, also Realien für eine digital sozialisierte Generation, für die das traditionell bedeutungsschwere, autonome Kunstwerk vergangener bildungsbürgerlich-tiefsinniger Zeiten seinen einstigen hohen Wert längst verloren hat. Wo früher eine elaborierte Kunstgeschichte über ihr Terrain herrschte, macht sich nun ein Paradigmenwechsel bereit: gerade junge Fans und Follower leben heute hellwach in einer digitalen Cloud, die visuelle coole „Artefakte“ lieben und weniger Werke als autonome Wirklichkeiten verehren. Die alten Unterscheidungen und Grenzziehungen zwischen bedeutungsschwerem High und banalem Low sind austauschbar und spielerisch zitierbar geworden. Und das ist gut so.

Allein dieses einleitende Beispiel aus Wolfgang Ullrichs neuem, materialreich und fundiert geschriebenem Buch vermittelt den Grund für ein umfassendes Like meiner Rezension: dem Autor gelingt es vor allem mit seiner Präsentation ausgesuchter Projekte aus Welt zwischen Kunst und Social-Media sowie mit subtil und raffinierten vorgetragenen Thesen zu einer „Kunst nach dem Ende der Autonomie“ sich im unübersichtlichen Feld zwischen Kunst, Markt und Macht, zwischen Anspruchsniveaus von gelingender (und misslingender) Kunst sowie höchst zeitgemäßer (Konsum- und Kunst)-Theorie neu zu positionieren. Mit seinem 190seitigen Band, der einige Thesen seiner früheren Publikationen fort- und dabei präzise und pointiert zusammenführt, hat sich Ullrich nun eine ebenso kritische wie auch hellwache aber auch "kulturoptimistische" Position in der Gegenwartskunst-Welt erschrieben. Kunst gewinne heute, so Ullrich in seinem spannend zu lesenden 1. Teil über den "überstrapazierten und entleerten Kunstbegriff" (S. 29 ff.), seine Autorität nicht mehr durch ihre alten Verbindungen mit Macht und Geld, sondern mit politisch und sozial kontroversen Themen (S. 42f.), die die kreativen Rezeptionsleistungen ihrer Nutzer:innen in wechselnden Konstellationen immer neu provozieren. Dass Kunst seit der Romantik lebe, so Ullrich, vom Versprechen "anders als nur anders" (S. 30) sein zu wollen, ist eine Sache; eine andere ist die, wie die damit verbundenen Konsum-Reflexionen und Dimensionen von Kunst-Ansprüchen auch von Seiten ihrer Betrachter:innen zu entdecken sind.

Wer heute Ausstellungen zeitgenössischer Kunst besucht, der kommt sich so ähnlich vor wie heutige Kosmolog:innen angesichts ebenso bekannter wie auch rätselhafter dunkler Sternen- und Materiehaufen: die Betrachter:innen müssen ständig ihre gerade realisierten Beobachtungen mit ihren möglicherweise neuen Erfahrungen und Erwartungen abgleichen. Versprach Kunst einst, so Wolfgang Ullrichs These, in früheren Zeiten eine Vision einer ewigen, göttlichen und transzendenten, autonom in sich geschlossen Wirklichkeit, so aktivieren heute entstehende Kunstprodukte die Lust ihrer Konsumenten Werke wie hybride Mischformen quasi wie Werk-Waren wahrzunehmen und zu genießen. Kunst reflektiert und aktiviert sich heute auch selbst: als eine Form der anspruchsvollen Konsumsteigerung, die wie die Werke, Marken und Ansprüche auch deren Kritik einschließen.

Ob Kunst, Mode, Design, Marketing oder sozial-politischer Aktivismus - a l l e s ist für heutige Kunstproduzent:innen funktional verwend- und vor allem zusätzlich verwertbar: das Ende der Autonomie der Kunst ist gekommen - doch die Irritationen und Überraschungen über die Mehrwerte, die heute etwa von Kunst-Sneakern ausgehen, die gleichzeitig als Fanprodukte und als verstörend indifferente Mehrwert-Objekte Kunststatus generieren zeugt, so jedenfalls Ullrichs überzeugende Deutung, wie heute die Kunstevolution keinerlei Probleme damit hat, ihre funktionale Differenzierung weiter voran zu treiben. Schuhe sind als Sneaker heute nicht nur Bilder sondern Versprechungen, die ihre Träger:innen zur Selbstermächtigung animieren. Oder wie Ullrich subtil schlussfolgert: "Verhieß in der Moderne ein Bild von Schuhen mehr als diese selbst, ist es mittlerweile umgekehrt." Galt Kunst auf dem Höhepunkt ihrer Autonomie noch als Produzent von tendenziell wirklichkeitsfernen, transzendenten Sphären, in denen sich Kunsthistoriker:innen ungestört vom Publikum ihren Problemen nachgehen konnten, so herrscht heute eine nahezu globale Freiheit zur Beliebigkeit oder anders gesagt, die Konsumorientierung hat die Kunst zu einem globalen Bilder-Medium werden lassen, in dem wenige exklusive Ikonen des Banalen (siehe Sneakers und anderes Konsum-Zeugs) den Diskurs der Kunst zu dominieren scheinen. Die lustvoll gesteigerte Wendigkeit im Denken des Autors kann dieses Zitat beispielhaft belegen: "So sehr die oft spröde, sich verweigernde und verrätselnde Ästhetik moderne Kunst zum Appell wurde, sich interpretatorisch umso mehr ins Zeug zu legen so sehr erfüllt die Niedlichkeit von Art Toys und Markenkunst eine apotropäische Funktion - als ginge es darum die bösen Geister der Exegese abzuhalten." (S. 94) An diesem Beispiel wird auch so etwas wie eine grundsätzlicher "Zugriffsmodus" dieses Autors erkennbar: er schließt zwei voneinander unabhängige Ideen überraschend miteinander kurz und staunt dann gewissermaßen über den eigens erzielten Erkenntnisoutput.

So inspirierend Ullrich eine materialreiche, aus unterschiedlichen Diskursen bestehende Übersicht aus Kunsttheorie, Konsumphilosophie, kuratorischer und ausstellungspolitischer Praxis mit überzeugenden Beispielen ( z.B. Virgil Abloh, Jerry James Marhall, Beyoncé, Candice Breitz u. v. a. ) illustriert, desto dringender erscheinen mir als Leser und Rezensenten neue Anschlussfragen zu sein, denen sich Ullrich gegen Ende seines Buches zunehmend widmet: wie wird etwa sich Marken-Kunst heute, also zukünftig entwickeln, wenn die aktuelle Lust am Hybriden ihrer Mischformen immer noch weiter zunimmt? Welche Rolle wird zukünftig die Ereignishaftigkeit der individualisierten Beobachtung von Kunstsituationen im Gegensatz zum heute immer mehr sich durchsetzenden Teamwork künstlerischer Projekte spielen? Was sagt Ullrichs eigens thematisierte Unterscheidung zwischen gelingender und misslingender Kunst eigentlich genau aus?

Wird es demnächst weniger um die Wahrnehmung von Kunst-Werken als vielmehr und eher um die Bewertung von Ansprüchen gehen, die sich aus einer Beobachtung von Transparenz (oder Intransparenz) ihrer jeweiligen funktionalen und sozial vermittelten Herstellungsweisen ergeben? Und wird man den Schein von vordergründiger Beliebigkeit, den viele Werke heute noch ausstrahlen nicht vielmehr durch den systemischen Anspruch an Komplexität ersetzen müssen? Dass die globale Konsumkultur die bildungsbürgerliche Kunstkultur inzwischen höchst erfolgreich gekapert und der Kunstfreund tendenziell zum markenbewussten Fan mutiert ist, haben wir in erster Linie Wolfgang Ullrichs hellwachen Analysen und Problembeschreibungen entgrenzter Kunst seit Beginn der zweitausender Jahre zu verdanken. So wie der Konsum zu einer prägenden Koordinate der Gesellschaft wurde, so hat sich allgegenwärtige Präsenz und die Lust an der Hybris, der monströs angewachsenen Steigerung von Reizen des Artifiziellen und Aufmerksamkeit gegenüber des Unbekannten auf den gesamten Kunstbereich inklusive ihrer klassischen Institutionen wie den Museen ausgedehnt. Mit Hilfe der höchst anregenden und Lektüre von Ullrichs neuem, wie immer gut lesbaren Buch gilt die Erkenntnis: Die zukünftige Seite der komplexen Materie Kunst, die ihre ästhetischen, sozialen und ökonomischen Mehrwerte so gerne exklusiv selbst feiert, wird so schnell nicht zu lüften sein: Immer wieder mal geht die Autonomie gerne fremd - und das ist auch für alle, die Lust am eigenen transparenten Denken haben, gut so. Möglicherweise ist Kunst aber doch noch dort zu finden, wo sie Ullrich mit dem Titelsatz vom Ende ihrer Autonomie schon entwertet glaubte: in der singulären Bestimmung ihrer autonomen Leistungen, die eben nicht nur an Sneakern und anderen Kunstartefakten ebenso nicht-autonom wie auch überraschend anders begreifbar gemacht werden können. Ullrichs Formel ultimativer, paradox gesteigerter Zeitgenossenschaft lautet kurz und bündig: "Als Kunst gilt, was zugleich nicht Kunst ist." (S. 38) Mit dieser hoch komprimierten Formel wird auch jede einzelne Begegnung mit einer solchen Nicht-Kunst-Ereignis zu einem jeweils aktuellen Zurechnungsproblem: Was könnte jetzt nicht alles auch noch Kunst werden und was wären dann deren Folgen? Oder mit etwas abstrakteren Worten: N a c h der Autonomie ist wahrscheinlich v o r ihrer nächsten Form einer anderen, differenzierteren und zusätzlich gesteigerten Wiederverwertung, die Kunst nicht aufgibt, sie jedoch zugleich entwertet um sie anders aufzuladen.

19.04.2022
Michael Kröger
Die Kunst nach dem Ende ihrer Autonomie. Ullrich, Wolfgang. Deutsch. 192 S. 21,5 x 13,5 cm. Engl. Br. Wagenbach Verlag, Berlin 2022. EUR 22,00.
ISBN 978-3-8031-5190-2
 
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