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Gegenwartsästhetik

Am Anfang irritiert der merkwürdig abgegriffene Titel. "Gegenwartsästhetik"? Echt jetzt? Noch eine? Und warum dann so künstlich lakonisch? Wer es heute fertig bringt, in einer Darstellung einen eigenen Anspruch an die Erfassung eines Sachverhalts zu prozessieren, dabei auch eine gewissen Tiefe in der Bildung seiner Gedanken zu formulieren unternimmt und sich am Ende im Namen und als Sprecher einer bestimmten "Stilgemeinschaft der Wissenden" outet, inszeniert oder selbst ironisiert – der hat einen relativ langen Bildungsweg hinter sich gebracht. So lautet wohl sinngemäß eine (sehr kurze) Zusammenfassung eines der Aspekte in der „Gegenwartsästhetik“ der beiden Autoren Moritz Baßler und Heinz Drügh, die sich in den letzten Jahren als Literaturwissenschaftler mit Phänomenen der POP-Ästhetik hervorgetan haben und nun eine hellwache, teilweise spannend lesbare „Gegenwartsästhetik“ vorgelegt haben, die sich aus ästhetischer Theorie ebenso wie aus Pop-Literatur der neusten Art wie „Allegro Pastell“ oder aber auch speziellen Kinoerfahrungen speist. Durchaus in Anlehnung des von den Autoren zitierten Slamers Sebastian 23 „Träumen ist Schlaf mit Ideen“ besticht dieser Band mit seiner woken Mischung einer „Kunst der Distanzierung“ und einer gleichzeitigen „Intensivierung durch Prozessierung ihrer eigenen Gedankenverläufe“, die nicht das Ziel haben, eine weitere reine Theorie der Gegenwartsästhetik zu zelebrieren, sondern, durchaus lobenswert, die Probleme ihrer Zeit ernst- und die ihre LeserInnen als live mitdenkenden Reflektierende mitzunehmen.

In einem eher retrospektiv-historischen angelegten 1. Teil, in dem ästhetische Leitmotive neu rekombiniert werden, problematisieren die Autoren einschlägige Theoreme von Susan Sontag, Immanuel Kant und Jean-Francois Lyotard um schließlich eine ziemlich einleuchtende beobachterabhängige Form der „Dreiwertigkeit ästhetischer Urteile“ auszumachen. Was Niklas Luhmann vor 30 Jahren kurzerhand als theorietechnische Anschlussfähigkeit thematisierte, wird hier nun auf Augenhöhe angewandter Ästhetik detailliert verhandelt.

Als akademisch gewiefte Theoretiker aber durchaus dem alltäglich Banalisierten zugewandte Fans des Pop-Universums sind sich Baßler/Drügh zum Glück auch nicht zu schade, um in die endlos reproduzierten Retro-Banalitäten beispielsweise von Donald Duck oder Loriot vorbeizuschauen (Früher war mehr Lametta, heute ist mehr Ästhetik). Originell (sorry für diese Bezeichnung) lesen sich besonders die Kapitel, in denen über die „Skalierbarkeit des ästhetischen Urteils“ räsoniert wird: vulgo über die heute gerade im konsumorientierten Kapitalismus herrschende Angewohnheit die feinen Abstufungen des ästhetischen Empfindens angemessen zu formulieren. Wo derartig lebendig und mit scheinbar leichter Hand zwischen „emotionaler Involviertheit“ und „begrifflicher Distanz“ hin und her jongliert und geschaltet wird, fühlt sich der rezensierende Leser doch beinahe animiert bei diesem Treiben mitzutun. Im Pop-Betrieb macht der Stil den Inhalt – und damit lustvoll zitatförmig: "Vorauseilende Wehmut". Was würden AutorInnen heute nicht alles tun, um als SchöpferIn dieser Perle des Pop anerkannt zu werden (Doppel-smiley). Dass bei diesem kritischen Projekt unter anderem gerade Theodor W. Adorno, der Avantgardekenner und Kulturkritiker des schlechten Massengeschmacks, den Kürzeren zieht und „nur“ als negativer Resonanzboden der eigenen Theoriebildung herhalten muss – geschenkt ...

Die Phänomene des Pop, der angewandten Populärkultur, so zitieren die beiden Autoren sinngemäß Diedrich Diedrichsen, einen renommierten Kenner der Popkultur, trete nicht exklusiv aber scheinbar inklusiv als Geheimcode auf, der allen zugänglich sei. In dieser Lösung entfalten sich nun die Probleme und Paradoxien in den heutigen westlichen Demokratien: was tun, wenn Querdenker mit ästhetisch getriggerten Attacken so tun als wären sie Opfer eines diktatorischen Systems und andererseits die Demokratie darauf basiert Ideale freier Kommunikation vorzuhalten, die sie im Notfall nicht garantieren kann? Es gehört zu Stärken dieses Bandes, dass ihre Autoren sich nicht wie häufig zu beobachten, die Gegenwart des Pop ohne die Probleme der herrschenden Kommunikationsverhältnisse der Social-Media zu untersuchen, in denen gerade Praktiken der Pop-Ästhetik in subtiler Weise in politische Performances umgekehrt und ausgetauscht werden – „Gegenwartsästhetik“ kann sehr schnell mit Posen und Strategien von Gegenwartspolitik remixt werden. Wie verwandeln sich zunächst ästhetische Phänomene des massentauglichen Spektakulären plötzlich in Momente unerwarteter ideologischer Propaganda, die im kulturell gesicherten Schutzmantel demokratisch verbürgter Freiheiten auftritt? An dieser Stelle wird nun deutlich wie die etwa von Clement Greenberg beschworene Spaltung von „Avantagarde und Kitsch“ auf heute noch Probleme bereitet, die sich nur auflösen lassen, indem sich möglicherweise die Gegenwartsästhetik in einer demnächst anstehenden großen Transformation in etwas unbekanntes Drittes verwandeln wird: die die heutigen exklusiven „Stilgemeinschaften der aktuelle Wissenden“ in womöglich neuartige zeitgenössische Sozialgemeinschaften substantiell erweitern könnte. Auch die heute als drängend erfahrene „Frage der ästhetischen Autorität“ wird sich, so lernt man hier, angesichts der anstehenden politischen (Klima-)Krisen möglicherweise in Dimensionen erweitern, die neue Formen von sozial-ästhetischer Gemeinsinnigkeit notwendig lassen werden könnte. Wer bestimmt die geltenden Maßstäbe einer Gegenwart, wenn potentiell sehr viele AutorInnen im Netz mit ihren Ansichten ernst machen und diese zur Diskussion stellen? Zurzeit gelte, so die Autoren, das Gesetz, nachdem nur diejenigen, die die Ikonen eines jeweiligen Marktes propagieren, die Hoheit über ästhetische Sensibilitäten formulieren – Streit in vielerlei Beziehung ist damit so sicher wie auch vorprogrammiert und vom Markt im Kampf um globales Aufmerksamkeitskapital erwünscht.
Ein dringend notwendiges Buch, das, ganz auf der Höhe der heute möglich gewordenen Lösungen, keine wohlfeilen neueste Theorien zum POP anbietet, sondern uns und andere mit dringenden Fragen, ästhetischen Inspirationen und politischen Zumutungen auf Augenhöhe präsentiert! Zurück zum Titel: der ist unangemessen kurz. Je näher man darüber nachdenkt desto skeptischer wird man. Ganz schön hinterlistig. Wäre „Hellwach gegenwärtig. Noch eine Ästhetik“ nicht auch eine smarte Option gewesen?

16.11.2021
Michael Kröger
Gegenwartsästhetik. Baßler, Moritz, Drügh, Heinz. 307 S. meist fb. Abb. 21 x 12,5 cm. Gb. Konstanz University Press, Konstanz 2021. EUR 28,00.
ISBN 978-3-8353-9138-3
 
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