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Unbewältigt? – Ästhetische Moderne und Nationalsozialismus

Wo steht sie, die Aufarbeitung der Kunst im Nationalsozialismus? Lange konzentriert auf den Kunstraub des NS-Regimes, erhielt das Kunstgeschehen im Dritten Reiches in seiner Gesamtheit bisher weniger Aufmerksamkeit. Eine Ausnahme war 1997 das Berliner Symposium Überbrückt: Ästhetische Moderne und Nationalsozialismus. Kunsthistoriker und Künstler 1925-1937. Dieses widmete sich den Handlungsmotivationen gerade jener Kunstakteur*innen, die keinen Wiederspruch zwischen ästhetischer Moderne und dem totalitären nationalsozialistischen Staat sahen. Daran anknüpfend fand im Mai 2019, unter der Leitung Meike Hoffmanns und Dieter Scholz‘ und in Kooperation von Neuer Nationalgalerie und Freier Universität Berlin, ein internationales Kolloquium statt, das sich erneut dem Thema widmete – insbesondere in Hinblick, wie sich der Forschungsstand seit 1997 verändert hat. Der hieraus entstandene Tagungsband umfasst 21 Beiträge, basierend auf den Vorträgen der Teilnehmer*innen, sowie eine transkribierte Podiumsdiskussion. Im Zentrum stehen Kunstakteur*innen, welche die ästhetische Moderne mit den Ausdrucksformen des Nationalsozialismus zu verbinden versuchten, sowie ihre Handlungsmotivation. Hinzu kommen weitere Fragen: Welche Kanonisierungsmechanismen haben zur heutigen Forschungs- und Wahrnehmungssituation geführt? Welche ideologisch befrachteten Begrifflichkeiten und Argumentationsmuster bestehen gegenwärtig und gehören einer differenzierten Untersuchung? Und über allem schwebend: Wie sieht der richtige wissenschaftliche Umgang mit diesem schwierigen Thema aus?
Den inhaltlich sortierten Beiträgen ist eine Forschungsbilanz Christoph Zuschlags vorangestellt, der die seit dem ersten Symposium 1997 neu gewonnenen Erkenntnisse umreißt. Wie komplex und heikel der Umgang mit klaren Kategorisierungen und Begrifflichkeiten der nationalsozialistischen und entarteten Kunst ist, verdeutlichen dabei die anschließenden Beiträge (Olaf Peters, Andreas Hüneke). Dazu gehört bereits die simpel scheinende Beschreibung einer Person als ‚Nationalsozialist‘, wie Janosch Steuwer erläutert. Die Ambivalenz der Situation und ihre vielen Abstufungen werden im Weiteren klar. Etwa, wo es um die jüdische Kunsthändlerin Anna Caspari geht, die durch ihre Vermittlertätigkeit den NS-Kunstraub unterstützte (Beitrag Sebastian Peters), oder im Falle des Kunsthistorikers Erhard Göpel, der verfolgten Kunsthändler*innen und Künstler*innen dank seiner Position innerhalb des NS-Apparates Ausreise-Visa beschaffte (Beitrag Eugen Blume). Doch auch eindeutigere Positionierungen wie des Frontmalers Franz Eichhorst (Beitrag Julius Redzinski) oder die propagandistische Tätigkeit Hildebrandt Gurlitts (Beitrag Meike Hoffmann) werden analysiert und verdeutlichen die Vielgestaltigkeit des Verhältnisses moderner Kunst zum Nationalsozialismus (weitere Beiträge Thomas Röske, Michael Nungesser). Ebenfalls wird der Faktor Öffentlichkeit hinsichtlich Kunstproduktion und -präsentation präzisiert. Hinsichtlich der Künstler*innen kommt ihre autobiographische Selbstpositionierung nach außen zur Sprache, wie sie vor allem von Emil Nolde bekannt ist (Beitrag Wolfram Pyta). Bereits die Existenz eines Propagandaministeriums legt jedoch nahe, den Blick auch auf die Präsentation von Kunst zu weiten, bspw. die Bedeutung propagandistisch motivierter Fabrikausstellungen (Beitrag Michael Tymkiew). Gerhard Paul betont die taktisch angelegte, visuelle Präsenz nationalsozialistischer Bildwelten sowie ihrer propagandistischen Bedeutung und drängt daher auf eine tiefergehende Forschung nach der Methode der Visual History. Wie wichtig eine Untersuchung der nationalsozialistischen Bildwelten und -sprache für die Gegenwart ist, verdeutlicht Volker Weiß, welcher die heutige Bildsprache der Neuen Rechten als motivischen Wiederaufgriff und Instrumentalisierung heroischer Kunst der Moderne entlarvt.
Dass eine Untersuchung bestehender Narrative vonnöten ist, bestätigen auch die anschließenden Beiträge. Beispiele eines taktischen Vorgehens zugunsten einer eigenen Narrativkonstruktion stellen Emil Nolde und Eberhard Hanfstaengl dar (Beiträge Bernard Fulda, Christina Rothenhäusler). Die Untersuchung von Kanonisierungen und Konstruktionen einer bestimmter Moderne in der BRD, der DDR, den USA sowie weltweit seit Kriegsende wird in den Beiträgen Gregor Langfelds und Dorothea Schönes deutlich. Sie zeigen, wie sehr heutige Erzählungen auf bewusst konstruierten Kunstgeschichtsschreibungen fußen– etwa durch die einer gewissen Haltung entsprungenen, selektiven Werkauswahl in Kunstausstellungen.
Das letzte Kapitel widmet sich der bereits angedeuteten Rolle von Museen und deren Umgang mit der Kunstproduktion im Dritten Reich. Erneut wird Emil Nolde als Beispiel betrachtet, der durch seine autobiographische Selbstpräsentation erreichte, dass sein nationalsozialistischer Hintergrund bis in die 2010er Jahre in Ausstellungen quasi keine Beachtung fand (Beitrag Bernhard Fulda). Dass sich diese zugunsten des Verfemten-Narrativ, oft bestehende Leerstelle auch in Ausstellungen zu anderen deutschen Expressionisten wiederfindet, erläutert Aya Soika. Sie nennt hierfür Max Pechstein: Sein Schaffen werde meist nur mit Fokus auf seine Aktivität innerhalb der Künstlergruppe Die Brücke präsentiert. Sein Spätwerk während des Nationalsozialismus, darunter Entwürfe für das NS-Regime, sei bisher jedoch meist ausgelassen worden. In Überleitung an die Podiumsdiskussion bespricht Meike Hoffmann zuletzt anhand der parallel zum Kolloquium, von ihr und Soika kuratierten Ausstellung Flucht in die Bilder? Die Künstler der Brücke im Nationalsozialismus im Brücke-Museum mögliche Wege, wie Museumsinstitutionen in ihren Ausstellungen mit selbst mitetablierten Narrativen umgehen können. Die abschließende Podiumsdiskussion (Redner*innen: Lisa Marei Schmidt, Joachim Jäger, Dorothea Schöne, Christian Ring, Moderation: Sebastian Preuss) kreist dem folgend um die Frage, welche Konsequenzen für Museen und ihre Arbeit aus den Kolloquiumserkenntnissen hinsichtlich der ambivalenten Situation von Ästhetischer Moderne und Nationalsozialismus resultieren.
Will man zukünftig die Fortsetzung gewisser Narrative umgehen, so darf die formal-ästhetische Moderne nicht von ihren historischen Umständen getrennt behandelt werden. Das macht dieser lohnende und facettenreiche Tagungsband deutlich klar. Ebenso, dass eine weitere Aufarbeitung des vielseitigen, teils so widersprüchlichen Kunstgeschehens im Dritten Reich unabdinglich ist. Dabei gilt, sich als Forschende immer wieder die Frage zu stellen, wo stehen wir und wie steht es um die Aufarbeitung. Die im Verbrecher-Verlag erschienene Publikation präsentiert somit den aktuellen Status Quo.

16.02.2021
Valentina Bay
Unbewältigt? Ästhetische Moderne und Nationalsozialismus. Kunst, Kunsthandel, Ausstellungspraxis.Hrsg.: Hoffmann, Meike; Scholz, Dieter; Beitr.: Blume, Eugen; Fulda, Bernhard; Hüneke, Andreas; Jäger, Joachim; Langfeld, Gregor; Nungesser, Michael; Paul, Gerhard; Peters, Olaf; Peters, Sebastian; Preuss, Sebastian; Pyta, Wolfram; Redzinski, Julius; Ring, Christian; Röske, Thomas; Rothenhäusler, Christina; Schmidt, Lisa Marei; Schöne, Dorothea; Soika, Aya; Steuwer, Janosch; Tymkiw, Michael; Weiß, Volker; Zuschlag, Christoph. Deutsch. 372 S. 27 x 20 cm. Verbrecher Verlag, Berlin 2020. EUR 29,00.
ISBN 978-3-95732-452-8
 
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