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Folklore & Avantgarde

Bei aller Exaltiertheit der Avantgarden des 20. Jahrhunderts und der aus ihnen resultierenden „Kunstismen“ ziehen sich die Suche nach Ursprünglichkeit und die Sehnsucht nach Unmittelbarkeit wie ein roter Faden durch die Geschichte der Moderne. Ob Ernst Ludwig Kirchner, Heinrich Campendonk, Pablo Picasso, Wassily Kandinsky, Natalja Gontscharowa oder Anni und Josef Albers: Sie alle ließen sich auf der Suche nach einer neuen Formensprache nicht zuletzt von Volkskunst inspirieren. Auch wenn die Künstler der Moderne, wie Kandinsky etwa, auf der Suche nach dem großen Geistigen waren, sehnten sie sich doch nach einer Direktheit und unmittelbaren Verständlichkeit ihrer Kunst, wie sie den Werken der Folklore eingeschrieben zu sein schien.
Die Dokumentation zahlreicher Spielarten dieser Wahlverwandtschaften gehört längst zum Kanon der Kunstgeschichtsschreibung – und wird in Zeiten der notwendigen Postkolonialismus-Debatten heute neu befragt: die Begeisterung für die einst so genannte „Negerkunst“ etwa, wie sie Carl Einstein in seinem erstmals 1915 erschienenen gleichnamigen Buch präsentierte; die zahllosen Phänomene, die William Rubin noch 1985 unter dem Titel „Primitivism in Modern Art“ zusammenfassen konnte, oder der Einfluss von russischer Volkskunst und bayerischer Hinterglasmalerei auf die Werke Wassily Kandinskys und Gabriele Münters in Murnau. Diese Geschichten sind im Grunde längst bekannt, doch halten die künstlerischen Wahlverwandtschaften zwischen Folklore und Avantgarde immer wieder Überraschungen bereit. Das Kaiser Wilhelm Museum Krefeld hat sich daher erneut dem Thema gewidmet und in einem großangelegten Projekt auch seine eigene Geschichte reflektiert: So suchte schon der erste Direktor des Hauses, im Rahmen der Kunstgewerbebewegung um 1900, nach Inspirationen aus bäuerlicher Keramik für eine Überwindung des Historismus oder präsentierte die Anverwandlungen indonesischer Batik-Dekore durch den niederländisch-deutschen Jugendstil-Künstler Johan Thorn Prikker.
Auch sein Nachfolger Max Creutz zeigte Kunst und Kultur des Niederrheins oder historische Back- und Kuchenformen eben nicht unter völkisch-nationalistischen Vorzeichen, sondern als Inspiration und Rückbesinnung auf eine folkloristische Ausdruckskunst, die nicht von Nostalgie und Volkskunst-Kitsch verbildet war. Vor diesem Hintergrund bildeten Ausstellungen niederrheinischen Kunstgewerbes oder von Masken aus Papua-Neuguinea um 1930 keinen Widerspruch, sondern zeigen, dass die Suche nach neuen Inspirationsquellen längst von den Künstlerateliers auf die Ausstellungspraxis der für die Moderne aufgeschlossenen Museen übergesprungen war.
Auch wenn etliche der präsentierten Beispiele bereits bekannt sind, gehört der neue Band „Folklore & Avantgarde“, herausgegeben von der derzeitigen Direktorin der Krefelder Museen Katia Baudin und ihrem Team, zu den anregendsten Neuerscheinungen des Jahres 2020. Dies gelingt der Publikation nicht zuletzt dadurch, dass sie geschickt den Blick weitet und den Horizont erweitert: von der Begeisterung für die „Negerplastik“ im Expressionismus bis hin zur Folk Art-Bewegung in den USA während der Zeit des New Deal; oder von Murnau, wo Kandinsky und Münter Hinterglasbilder sammelten bis an den Niederrhein, wo schon 1906 javanische Schattenspielfiguren im Kaiser Wilhelm Museum ausgestellt wurden.

17.01.2021
Rainer Stamm
Folklore & Avantgarde. Rezeption volkstümlicher Traditionen im Zeitalter der Moderne. Hrsg.: Baudin, Katia; Knorpp, Elina. Deutsch. 328 S. 350 fb. Abb.. 27 x 23 cm. Hirmer Verlag, München 2020. EUR 39,90. CHF 48,70
ISBN 978-3-7774-3383-7
 
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