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Philatelie als Kulturwissenschaft

Trotz des Triumphs der Bildwissenschaft hat die Briefmarke – als Medium, Kunstwerk, Repräsentationsform, Propagandainstrument – in der Philologie noch immer keinen großen Stellenwert. Was wir alle dadurch verpassen verdeutlicht ein kleines Buch: „Philatelie als Kulturwissenschaft“. Die Herausgeber des Bandes, Dirk Naguschewski und Detlev Schöttker, hatten das Potential ihres Themas schon länger im Blick: Sie veranstalteten zunächst eine Tagung. Deren Ergebnisse, insgesamt zehn Beiträge, sind in vorliegender Buchform zusammengefasst.
Dabei ging es angesichts des stiefmütterlichen Daseins, das die Briefmarke im eigentlich üppigen Felde der Wissenschaft noch immer fristet, erst einmal darum, Perspektiven zu eröffnen. Und dies ist auf spannende, vollkommen überzeugende Weise gelungen. Allein Oliver Goetzes Text über die Briefmarken des Freistaates Fiume zwischen 1918 und 1924 zeigt, wie atemberaubend man Geschichte und Kunstgeschichte erzählen kann, wenn man dazu die richtigen Anschauungsbeispiele hernimmt – und das sind eben hier die Briefmarken. Weltpolitik im Kleinformat wird greifbar: Angesichts der Rangeleien zwischen Italien, Österreich und Jugoslawien um die Hafenstadt Rijeka (Fiume), deren Vielvölkergemisch sich mit dem Zerfall der Nationalstaaten im Ersten Weltkrieg zunächst zu einem Pulverfass entwickelte, das dann die italienische Majorität mit brandheißen Methoden zu löschen versuchte – unterstützt durch das politisch-propagandische Bildmedium Briefmarke, an deren Entstehung bedeutende Künstler wie Gabriele d`Annunzio und eine ganzer Tross von Grafikern beteiligt war.

Aber Briefmarken illustrieren nicht nur politische Ränke (und dabei bildet sich, wie Gottfried Gabriel anhand der Verwendung des Brandenburger Tors als Markenmotiv in Ost- und Westdeutschland zeigt, sowohl Realpolitik als auch Ideologie ab), sondern sie bilden eine Form des Mediums, die neben Geldscheinen, Münzen, Medaillen oder Graphik eine eigene Gesetzlichkeit hat. Dass dies bereits im frühen 20. Jahrhundert erkannt wurde zeigen drei Beiträge (Frank Zöllner, Steffen Haug und Detlev Schnöttker), die sich mit Aby Warburg und Walter Benjamin beschäftigen, zwei Philatelisten, denen sich die ganze Welt in der Briefmarke spiegelte und die in ihren Texten zum Thema schon damals auf die vielfältigen Möglichkeiten einer kritischen Briefmarkenkunde oder -wissenschaft hinwiesen.
In letzten Abschnitt des Buches öffnet „Philatelie als Kulturwissenschaft“ den Blick auf Briefmarken als Inspirationsquellen der Kunst, darunter der Pop Art und anderen Strömungen (Dirk Naguschewski) oder der Literatur (Ulrike Vetter). Diese Aufsätze zeigen die weitreichenden Möglichkeiten, sich dem Thema Briefmarken zuzuwenden – und man kann nur hoffen, dass der Band einen Impuls dazu in den Wissenschaftsbetrieb sendet: nehmt die Briefmarke endlich ernst. Es gab immerhin einmal Zeiten, in denen sich sogar die breite Öffentlichkeit dem Thema angenommen hatte, was Tom Steinert zu einem wunderbaren, in einer Fußnote versteckten, hier zitierten Seitenhieb veranlaßte. In Bezug auf die kampfesbetonten Auseinandersetzungen um die westdeutsche Markengestaltung in der Wochenzeitung „Die Zeit“ aus den späten 1950er Jahren kommentiert Steinert: „Angesichts in der Gegenwart scheinbar überhandnehmender ästhetischer Zumutungen wünschte man sich bisweilen eine derartige Urteilskraft und Prägnanz der Aussage zurück. Andererseits kann Jacobs [der Zeit-Autor] Engagement uns durchaus befremdlich, ja grotesk erscheinen, wenn man in Betracht zieht, dass dem mit der Mattscheibe des Mobiltelefons beschäftigten Publikum wohl selbst die großen gestalterischen Aufgaben – Architektur und Städtebau – zunehmend egal sind.“
Man sieht: Ausgehend von der Briefmarke ist viel zu holen, viel nachzudenken, denn es ist viel Inspiration verborgen. Und so atmet der vorliegende Band regelrecht die Lust, mit der alle Beteiligten an ihre Themen herangingen.

17.01.2021
Christian Welzbacher
Philatelie als Kulturwissenschaft. Weltaneignung im Miniaturformat. Hrsg.: Naguschewski, Dirk; Schöttker, Detlev. Deutsch. 224 S. fb. Abb. 19 x 12 cm. Kulturverlag Kadmos. Berlin 2020. EUR 24,90.
ISBN 978-3-86599-422-6
 
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