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Avant-Garde as Method

Kunst-, Kunstgewerbe- und Architekturschulen sind in den letzten Jahren immer mehr als Gegenstand der Forschung entdeckt worden. Mittlerweile liegen in vielen Sprachen und Formaten Studien vor. Auf diese Weise wird die Vergleichbarkeit der Lehrmethoden und künstlerischen Konzepte, der unterschiedlichen Reformansätze innerhalb der Moderne möglich. Auch die russischen Entwicklungen waren in groben Zügen bekannt. Neben der Schule in Witebsk, an der etwa Chagall und Malewitsch lehrten, war dabei immer wieder von „Wchutemas“ die Rede (englische Transkribtion: Vkhutemas, ein Akronym für „Höhere künstlerisch-technische Lehranstalten“). Diese aus der Moskauer Akademie hervorgegangene Institution versuchte zwischen 1920 und 1930, die revolutionären kubo-futuristischen Kunstexperimente in angewandte Pädagogik umzusetzen. Sowjet-Avantgarde als Lehrfach sozusagen.


Anna Bokov hat die bisherige Wchutemas-Forschung ausgewertet, zusammengefaßt und systematisiert. Und sie hat ein Kompendium, eigentlich: eine Schatztruhe in Buchform vorgelegt. Wohl zum ersten Mal in dieser Breite und Tiefe scheinen alle, wirklich alle Facetten der Wchutemas-Schule ausleuchtet. Und damit auch die vielen Widersprüche (denn nicht alles hier war „Modern“, auch wenn wir uns aus heutiger Sicht am liebsten auf diese Aspekte konzentrieren).
Die Architekturabteilung unter Nikolai Ladowski und seinen ungleich bekannteren Nachfolgern Alexander Rodschenko (der auch Grafik unterrichtete) und El Lissitzky (der aus Witebsk wechselte), spielt dabei eine besondere Rolle. Hier traten die neuartigen pädagogischen Vermittlungsformen am klarsten hervor. Nicht mehr der akademische Stilkanon wurde den Schülern vermittelt (der allerdings unter dem ebenfalls an der Wchutemas lehrenden Konkurrent Scholtowski weiter prägend blieb, als „stalinistischen Historismus“ seine gloriose Renaissance erfuhr, um bald darauf zum Dogma zu erstarren). Es ging um „Raum“ und Erfahrung. Um Subjektivität, um Schöpfung wider die Gesetze der Schwerkraft, der Logik, der Mathematik und der Geschichte, die man, dank „Diamat“, ohnehin auf seiner Seite wähnte. Entgrenzung, Freiheit, Zukunft, umgemünzt in Form, Farbe und Raum. In Energie (und, wie Anna Bokov betont: jenseits des reinen Funktionalismus und der Ökonomie, die sie etwa bei Corbusier oder Gropius walten sieht).
Anna Bokov breitet nicht nur die pädagogischen Manuale und das theretische Rüstzeug von Wchutemas aus (ihr Buch enthält ganze Reprintpassagen mit vollständiger Übersetzung und Kommentierung). Sie zeigt uns anhand von faszinierendem Bildmaterial auch die Modelle und Zeichnungen, die in den Kursen entstanden. Heroische Türme, kühn in die Luft gewuchtet, mit irrwitzigen Rohrkonstrukten: die „Wolkenbügel“, Tatlins „Turm der Dritten Internationale“, aber auch das Centre Pompidou lassen grüßen. Und sie macht anhand ihrer Beschreibung nachvollziehbar, wie diese verblüffenden Ergebnisse zustande kamen: Indem man die Schüler zunächst mit elementaren Formen (Kreis, Dreieck, Quadrat) arbeiten ließ. Indem sie Dynamismen kombinierten, Translation und Rotation allein durch Verschiebung und optische Verschachtelung herstellten. Indem sie dann ihre Erkenntnisse ins Dreidimensionale erweiterten.
Ausgebildet wurden in den Wchutemas-Ateliers Industriedesigner und Architekten. Es gab acht Abteilungen, analog zu den Werkstätten, die man aus europäischen (vor allem deutschen) Kunst- und Kunstgewerbeschulen kennt: Malerei, Skulptur, Baukunst, Holzbau, Metallbau, Keramik, Werbegrafik und Textilien. In den zehn Jahren ihrer Existenz studierten hier rund 2000 junge Menschen, mehr als an der größten westeuropäischen Schule ähnlichen Zuschnitts, der Ecole de beaux-arts in Paris. Das lag auch daran, dass die Sowjetregierung die Zugangsbeschränkungen zu Akademien und Universitäten 1918 aufhob. Jedermann konnte studieren, ohne Gebühren zu zahlen.
Bekannt wurde Wchutemas im Westen schon Mitte der 1920er Jahre. Frühzeitig bemühten sich die sowjetischen Künstler um den Austausch mit ihren europäischen Kollegen, indem sie Ausstellungen ihrer Arbeiten zusammenstellten und auf Tour schickten. Berlin war dabei ein wichtiger Dreh- und Angelpunkt, etwa durch El Lissitzkys 1922 hier gezeigte „Prounen“. Aber auch am Bauhaus (das mit seinem Grundkurs eine dem elementaren Wchutemas-Form-Farben-Ansatz vergleichbare Wahrnehmungsrevolution als Grundvoraussetzung allen künstlerischen Schaffens anstrebte) zeigte man sich in Form von Vorträgen und Publikationen willens, die Positionen der Russen zur Diskussion zu stellen. Dann der holländische Wendingen-Kreis. Und natürlich: die Pariser Art déco-Schau von 1925, für die Melnikov seinen Holzpavillon mit der diagonal geführten, von kantigen Trossen bekrönten Treppe baute. Anna Bokov knüpft bei all dem an, sodass auch westliche Leser, die nicht allzu intensiv mit den Entwicklungen der Sowjetunion vertraut sind, ihr déja-vu erleben – und auf geradezu magische Weise immer tiefer in den Bann von Wchutemas gezogen werden.

05.01.2021
Christian Welzbacher
Avant-Garde as Method. Vkhutemas and the Pedagogy of Space, 1920–1930. Vorwort von Frampton, Kenneth; Lavrentiev, Alexander. Englisch. 2020. 624 S. 965 fb. 80 s/w Abb. 31 x 24 cm. Gb. Park Books, Zürich 2020. EUR 58,00. CHF 65,00
ISBN 978-3-03860-134-0   [Park Books]
 
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