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Varlin als Zeichner

Dieses Buch ist eine Mogelpackung. Da denkt man, man bekäme eine Monographie über einen außerhalb der Schweiz reichlich unbekannten Künstler und was hält man in Händen? Eine Einführung in Zeichenmaterialien und ihre Geschichte. Ausgesprochen kenntnisreich und spannend erzählt der Schweizer Künstler Ulrich Binder die Geschichte der Blei- und Buntstifte, der Federn und Kreiden oder Filzstifte und Kugelschreiber. Ganz beiläufig werden die üblichen Standardfragen – z.B.: warum heißt der Bleistift Blei-Stift? – behandelt und neueste Literatur zu den Materialien und ihrer Verwendung ist auch berücksichtigt. Schnell merkt der Leser, dass sich dieses Vorgehen für das zeichnerische Werk des Malers Varlin besonders gut anbietet, denn nach Binders Auskunft ist es von Phasen geprägt, in denen der Künstler bestimmte Zeichenmaterialien bevorzugte. So verbindet der Autor in angenehm lockeren Ton die Geschichte des Mediums und seiner Materialen mit der künstlerischen Entwicklung des Zeichners.
Doch halt: Von „Entwicklung“ wollte Varlin (1900–1977) nichts wissen und erweist sich darin als ein Künstler, der den Narrativen der Moderne bewusst den Rücken kehrte und sich der Welt zuwandte, die er zeitlebens begeistert beobachtet hat. Und das obwohl er bereits in den 1920er Jahren in Paris und damit am Puls der Avantgarden war. Er war also ein Eigenbrötler oder auch einer der Freigeister der Kunstgeschichte, vielleicht nur ein Schweizer Kleinmeister, aber ein Künstler, dessen Werk zu entdecken lohnt, wenn man sich für Einfühlung ins jeweilige Sujet und dessen liebvolle bis spöttische Aneignung begeistern kann. In der Schweiz ist Varlin auch als Freund der Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt und Hugo Loetscher bekannt. Das leicht spöttische und vor allem scharfe Beobachten lag ihm im Blut, wie die frühsten Beispiele im Buch zeigen. Varlin machte es aber auch zu seinem Metier. Seinen Lebensunterhalt verdiente er sich in den ersten Jahrzehnten mit dem Karikaturenzeichnen unter anderem für den Schweizer „Nebelspalter“. Dennoch verstand er sich als Maler und seine Zeichnungen, sofern sie keine Karikaturen waren, blieben bis zur vorliegenden Publikation sein ganz persönliches Arbeitsmaterial. Zeichnen war ihm Weltaneignung, zur Kunst wurde ihm das Gesehene erst beim Malen. Sein malerisches Werk ist daher auch schon vor zwanzig Jahren – leider in einer unbezahlbaren, zweibändigen Edition des gleichen Verlags – publiziert worden, wie sein künstlerischer Nachlass insgesamt vorbildlich bewahrt und im Gespräch gehalten wird. Geboren als Willy Guggenheim nahm der Maler auf Anraten eines Kunsthändlers 1930 in Paris den Künstlernamen Varlin – nach einem französischen Anarchisten – an, damit nicht mehr der Eindruck bestünde, er, der Newcomer und bitterarme Bohemien sei mit der stinkreichen amerikanischen Familie gleichen Namens verwandt. Erst gegen Ende seines Lebens hatte er dann mit dem Malen von Portraits auch ein wenig wirtschaftlichen Erfolg.
Dieses Büchlein hätte auch ein größeres Format haben können, um die vielfältigen Abbildungen der Zeichnungen von der Skizze auf einem Papierschnipsel bis zum bildgroßen Werk opulent darzustellen. So steht die Größe eines mittleren Skizzenbuchs dem zurückhaltend bescheidenen Auftreten des Zeichners in nichts nach. Dabei sind die Abbildungen von einer atemberaubenden Qualität. Man meint sie mit Händen fassen und die Qualität der unterschiedlichsten Papiere erfühlen zu können. Zum Lesevergnügen gesellt sich also ein Sehvergnügen, weshalb dieses Buch seinen Zauber weit über einen Kreis an Schweizer Kunst Interessierter hinaus entfalten sollte.

05.01.2021
Andreas Strobl
Varlin als Zeichner. Binder, Ulrich. 132 S. 130 fb. u. 12 sw. Abb. 23 x 18 cm. Gb. Scheidegger & Spiess Verlag, Zürich 2020. EUR 38,00. CHF 39,00
ISBN 978-3-85881-664-1   [Scheidegger & Spiess]
 
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