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Der Struwwelpeter – Zappel-Philipp, Paulinchen und Hanns Guck-in-die Luft

„Sieh einmal her, hier steht er. Pfui! der Struwwelpeter“.
So steht er seit nun 175 Jahren auf der ersten Seite in diesem Buch. Auf einem Podest, als wäre er ein Denkmal. Und ist doch eines weil, so sagt es dieser Ausstellungskatalog, das am längsten kontinuierlich verlegte Kinderbuch. Allein im Originalverlag seit 1844 in mehr als 500 Auflagen erschienen und bis heute in mehr als vierzig Sprachen und über einhundert Mundartversionen übertragen. Da wäre ein Denkmal für diesen Burschen, so nennt ihn sein Verfasser Heinrich Hoffmann einmal, an der Zeit. Hat er aber schon. Seit 1985, in seinem Geburtsort Frankfurt. Dort krönen er und seine zottelige Haartracht den Struwwelpeterbrunnen, in Bronze gegossen.
Vor diesem Nachleben wird der Autor, Liberaler ebenso wie Preußenfreund, hier einprägsam einsichtig in das private, berufliche und gesellschaftliche Umfeld seiner Zeit gestellt. In der, Biedermeier, im Kinderbuch das Bild des braven oder durch Einsicht brav und gut gewordenen Kindes gepflegt wird. Doch nichts davon bei diesem Struwwelpeter, dem Bezugspunkt all jener zehn Geschichten mit denen Hoffmann in Bild und Text so demonstrativ-plakativ das Fehlverhalten von Kindern aufzeigt. Nicht ohne jene Spur aufklärerischer Sympathie für seine Protagonisten, die den moralischen Zeigefinger kleiner werden läßt. Und damit den Struwwelpetriaden seiner Nachfolger einen Spiel-Raum für eigene Interpretationen in Text und Bild öffnet. Die finden sich, im Text unausgesprochen beispielhaft, unter den Rubriken „Bilderbuchstruwwelpetriaden“, „Politische Struwwelpetriaden“, „Comic-Struwwelpetriaden“ und „Buchkunst und Kunsthandwerk“. Dabei dominiert, wie auch anders, die propagandistisch so wirksame politische Instrumentalisierung des Struwwelpeter, so beispielhaft im „Swollen-headed William“ (Kaiser Wilhelm II.) von 1914 und dem ebenfalls englischen „Struwwelhitler“ von 1943. Bald gefolgt von sich aufklärerisch verstehenden Struwwelpetern, die F.K. Waechters westdeutsch-antiautoritärer „Anti-Struwwelpeter“ von 1970 anführt. Dem im gleichen Jahr, im Katalogtext unbemerkt, Karl Schrader in seinem Ost-Berliner „So ein Struwwelpeter“ einen mißbilligend überdimensional großen ausgestreckten Arm und Zeigefinger auf einen unangepaßten jugendlichen DDR-Einzelgänger entgegenhält.
Nun hat der Struwwelpeter seine Hauptrolle gefunden, gegen Spießertum (David Füleki, „Struwwelpeter“, 2009), als Rebell (Fil und Atak, „Struwwelpeter“, 2009) und immer wieder, zuletzt in Jan Böhmermanns Struwwelpeter-Film 2018, als Mahner gegen rechte Tendenzen in unserer Gesellschaft (so schon Manfred Bofinger 1990, Louise Bofinger und Karsten Teich 2009). Dies alles immer wieder zeitgemäß illustriert, als Manga (David Füleki) oder wie bei Matthias Krings (1999-2002) in „Star Wars“-Szenen eingebettet. Struwwelpeter also für jeden Geschmack, wobei künstlerische Interpretationen wie die Struwwelpeter-Gemälde Angela Budahls (2003), Karin Jungs Scherenschnitt-Illustrationen (2011) oder die Experimente mit alten und neuen Schrifttypen im „Typographischen Struwwelpeter“ Hans Wittes (2008) innerhalb der Struwwelpeter-Nachfolge eher marginal bleiben.
Doch es sind gerade diese hier oft ganzseitig farbig auf über sechzig Seiten präsentierten Abbildungen, mit denen dieses Buch zu einer kleinen Geschichte der Struwwelpeter-Illustration wird, einem Augenschmaus für Graphik-Liebhaber und einem Muß für alle Struwwelpeter-Fans.
Der Struwwelpeter, eine unendliche Geschichte. Denn der Struwwelpeter, das sind wir alle.

17.03.2020
Wolfgang Schmidt
Der Struwwelpeter. Zappel-Philipp, Paulinchen und Hanns Guck-in-die-Luft: Zwischen Faszination und Kinderschreck von Hoffmann bis Böhmermann. Bildbeschreibung von Schmitz, Linda; Vogt, Christine; Zekorn-von Bebenburg, Beate. 128 S. 173 fb. Abb. 28 x 22 cm. Kerber Verlag, Bielefeld 2019. EUR 34,50. CHF 44,90
ISBN 978-3-7356-0626-6
 
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