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GLETSCHER

Das Buch beginnt mit atemberaubenden und wunderbar gedruckten Gebirgslandschaften des Wiener Aquarellisten Thomas Ender (1793–1875), der für Erzherzog Johann von Österreich neben den üblichen Landschaftsveduten auch Bilder aus dem Hochgebirge nach Hause brachte, mit denen diese Regionen zum Teil erstmals überhaupt bildlich wiedergegeben wurden. Der Schweizer Caspar Wolf (1735–1783) hatte zu den Künstlern gehört, die diese menschenfeindlichen und unerschlossenen Regionen als bildwürdig entdeckt hatten. Mit den Graphiken nach seinen vor Ort gesammelten Studien wurden die Gletscher schnell bei den wissenschaftlich Interessierten ebenso wie bei den wohlhabenden Reisenden populär. In den Westalpen – Schweiz und Frankreich – war Wolfs Nachfolger Samuel Birmann (1793–1847). Aber die Westalpen sind nicht das Thema des Buches, wie es auch keine Geschichte der Hochgebirgsmalerei bieten möchte. Der Autor Gernot Patzelt zieht vielmehr mit nun 80 Jahren eine Bilanz seiner jahrzehntelangen Forschungen an der Universität Innsbruck zur Entwicklung der Gletscher in den Alpen. Dabei konzentriert er sich auf das Gebiet der Ostalpen, das er in zahllosen Feldforschungen selbst beobachtet und analysiert hat. So kann er diese Summe seines Forscherlebens in einer Weise ziehen, die auch den Kunstinteressierten fasziniert. Sein ernsthaftes Interesse hat es ihm ermöglicht, nicht nur Kunstwerke in öffentlichen Besitz – wie die weitgehend unbekannten Zeichnungen und Aquarelle von Ferdinand Runk (1764–1834) aus der Sammlung der Wiener Akademie – heranzuziehen, sondern eben auch die in ihrem Naturalismus und ihrer Lebendigkeit umwerfenden Aquarelle Enders, die sich bis heute im Privatbesitz der Nachfahren von Erzherzog Johann befinden. Nur eine Auswahl dieser Bilder war vor einigen Jahren in der Albertina in Wien öffentlich ausgestellt.
Patzelt legt dar, dass die Kunstwerke dem Glaziologen erstaunlich präzise Belege über die Zustände der Gletscher im späten 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bieten können. Eindrucksvoll sind seine eigenen Fotografien, für die er genau die Standorte insbesondere von Ender aufgesucht hat. Im direkten Vergleich könnte man nun entsetzt und erschüttert das Buch zur nächsten Fridays for Future-Demonstration mitnehmen, denn es wird schlagartig klar, dass von dem was wir heute „weiße Pracht“ nennen und das früher die Todeszone der Alpen war, so gut wie nichts übrig geblieben ist. Aber der Autor wäre kein Naturwissenschaftler, wenn er es dem Leser und Betrachter so einfach machte.
Während die erste Hälfte des Buches die Artefakte als Beweisstücke seziert, legt Patzelt in der zweiten Hälfte seine eigenen Forschungen dar, die dem Laien die Augen für die Geschichte des Klimas öffnen können. Dass die Gletscher in der Zeit Enders mit dem Ende der Kleinen Eiszeit einen erneuten und bisher letzten Höchststand erreicht hatten, dürfte den wenigsten präsent sein. Sie breiteten sich sogar noch einmal so rasant aus, dass sie so manches Hochgebirgsdorf bedrohten. Doch in der Mitte des 19. Jahrhunderts setzte eine schubweise Umkehr ein und trotz mancher Jahrzehnte, in denen sie noch einmal ein wenig zulegten, befinden sie sich seitdem auf dem Rückzug.
Das könnte man nun als Beweis des Klimawandels nehmen und Patzelt schließt dies auch nicht aus. Aber er muss darauf verweisen, dass die genauen Untersuchungen der Landschaften zeigen, dass sich schon vor 6-10.000 Jahren die Gletscher einmal ganz weit zurückgezogen hatten und die Baumgrenze viel höher lag als heute. Wenn man ein Auge dafür hat, was der Wanderer vielleicht nur für eine Geröllhalde halten würde, kann man Spuren von Hirtenunterständen und deren Feuerstellen in Regionen entdecken, die bei Ender noch eisbedeckt sind. Baumstämme finden sich in den abschmelzenden Gletschern, die Aufschluss über Jahrtausende zurückliegendes Klima geben. Insgesamt öffnet das Buch ganz nebenbei die Augen, wie sehr die Alpen vom Eis und nicht nur von der Verwitterung geformt wurden. Aber auch der Mensch formte die Gebirgsregion viel stärker und länger – Patzelts Funde reichen bis in die Steinzeit zurück –, als man dies als Laie vermutet würde. Es ist eben eine ebenso faszinierende wie fragile Region, um die es bei diesen Forschungen geht, die Klimaaufzeichnungen und Archäologie verbindet. So endet das Buch als Summe eines Forscherlebens mit dem umwerfend ehrlichen Satz: „An diesem Themenbereich besteht noch ausgeprägter Forschungsbedarf.“

17.12.2019
Andreas Strobl
Gletscher. Hrsg.: Patzelt, Gernot. 256 S. 125 Abb. Gb. Hatje Cantz, Berlin 2019. EUR 50,00.
ISBN 978-3-7757-4535-2
 
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