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Oskar & Darja. Schlemmers Muse

Eine Erzählung von Sabine Appel nach Aufzeichnungen von Alexei Jekimowski: Oskar & Darja. Schlemmers Muse, Hirmer: München 2017, 88 Seiten, 9 Abbildungen, 14 x 20,5 cm, gebunden, ISBN: 978-3-7774-2939-7, 17,90 € [D], 18,40 € [A], 22,90 SFR [CH]
„Nach ihrem Erlebnis in der Einsamkeit von Kljasma war er ihr wieder ganz nah gerückt, und in Gedanken sprach sie manchmal mit ihm“ (S. 80), heißt es über Darja Jekimowskaja, die sich zeitweilig während des Zweiten Weltkrieges in einer entlegenen Hütte vor den Toren der Stadt Moskau verstecken musste. Dort, in ihren einsamsten Stunden, erinnert sich die einstige Muse von Oskar Schlemmer inbrünstig an die glücklichen Zeiten mit ihrer einzig wahren Liebe – das Zitat darf stellvertretend sein für Stimmung, Anspruch und Notwendigkeit dieser Publikation.
Doch wer ist diese Darja eigentlich und wer erzählt von ihr? Darja war eine russische Jüdin und Kommunistin, die durch Zufall den späteren Bauhausmeister Oskar Schlemmer kennenlernen und mit ihm eine Liaison beginnen sollte. Die Verfasserin des Buchs „Oskar & Darja“ ist die Germanistin und Sachbuchautorin Sabine Appel, die u.a. Biografien über Johann Wolfgang von Goethe und Friedrich Nietzsche veröffentlicht hat. Als Grundlage ihrer Erzählung gibt sie an, auf das in der Staatsgalerie Stuttgart bewahrte Briefkonvolut von Oskar Schlemmer an Darja sowie die Aufzeichnungen des Enkels der Protagonistin, Alexei Jekimoswki, zurückzugreifen, die dieser 2014 veröffentlicht haben soll. Da sich diese Publikation nicht überprüfen ließ und Appel schreibt, sie sei überhaupt vielfach auf Mutmaßungen angewiesen (S.7), muss offen bleiben, inwiefern sich ihre Veröffentlichung daher auf den Bericht des Enkels stützt, was Appel fabuliert und was überprüfbare Fakten sind. Das ist nun – wie es schon in Goethes Faust heißt – des Pudels Kern: Wissenschaftlich ist das Büchlein – das sich schön in den Rausch der Jubiläumsvorbereitungen der Bauhaus-Gründung reiht – nicht verwendbar. Appel schreibt in der Ich-Perspektive des Enkels über Leben und Liebe der verstorbenen Großmutter und versucht sich dabei in die Gefühlswelt der einstigen Muse Schlemmers hineinzudenken.
Zum biografisch (fast) überprüfbaren: Dora Naumowna Jekimowskaja, deren Nachname in der Fachliteratur auch „Yekimovsky“ geschrieben wird und deren Kosename „Darja“ bzw. „Daria“ lautete, wurde 1890 im damals noch zaristischen Slonim (heute Weißrussland) geboren. Ihre wechselvolle Lebensgeschichte brachte Darja nach Berlin, wo sie 1910 den Künstler Oskar Schlemmer kennenlernt. Aus dieser Begegnung entsteht nicht nur ein intensiver, rund 20 Jahre währender Briefwechsel, sondern auch ein gemeinsamer Sohn. Nach dem Krieg treffen Oskar und Darja, die bereits eine Tochter aus einer früheren Beziehung hat, nur noch selten aufeinander. Doch spätestens in Dessau besucht sie ihn mit ihren Kindern. Er hat zu diesem Zeitpunkt jedoch schon längst eine Familie mit Tut gegründet. Den letzten Brief sendet er Darja – laut Appel – im August 1928. Die Autorin charakterisiert Darja, die beide Kinder im Zweiten Weltkrieg verliert, als politische Aktivistin und zeichnet ihre über Europa verstreuten Lebensstationen mit häufig wechselnden Wohnorten nach. 1972 stirbt sie verarmt in Moskau. Die Briefe von Oskar Schlemmer hatte Darja – wie es im sehr viel informativeren Stuttgarter Ausstellungkatalog von 2014 heißt – „bis zu ihrem Tod in Russland verwahrt. 2013 erfolgte zusammen mit den Briefen an Schlemmers Sohn Leonid und weiteren Familiendokumenten der Ankauf durch die Staatsgalerie Stuttgart als Sonderbestand des Archivs Oskar Schlemmer“ (vgl. Ausst. Kat. Stuttgart 2014, S. 264). Der Aufsatz Arterien der Weltliteratur. Schlemmer liest. Schlemmer schreibt. Zur Bedeutung seiner Briefe von Wolf Eiermann (in: Ina Conzen (Hg.): Oskar Schlemmer. Visionen einer neuen Welt, Ausst.Kat. Staatsgalerie Stuttgart 2014/2015, München 2014, S. 257-265) über den nur einseitig erhaltenen Briefwechsel ist sehr empfehlenswert: Eiermann, der auch den Inhalt des Darja-Oskar-Bestands kurz umschreibt, gibt Briefzitate präzise an und bildet einen Brief von 1915 beispielhaft ab.
Zurück zu „Oskar & Darja“: Appel hat den Inhalt in sechs chronologische Kapitel, die die Jahre von 1890 bis 1972 umfassen, unterteilt. Auf Inhaltsverzeichnis und Vorwort folgt eine Bildstrecke (enthält u.a. eine Portraitfotografie von Darja, verschiedene Aufnahmen von Schlemmer, Darjas Tochter aus erster Ehe beim Besuch in Dessau und des gemeinsamen Sohns). Uneinheitlich werden die Fotografien, die angeblich aus dem Besitz des „Autors“ Alexei Jekimowski stammen (s. Bildnachweis), beschrieben und datiert; warum eine schwarz-weiß abgedruckte Abbildung den Hinweis braucht „Fotografie vom Künstler farbig überarbeitet“ bleibt offen (S. 12). Die Autorin oder die Autoren kolorieren jedoch im Folgenden ein breites Bild von Darjas Lebenswelt. Wenn die biografischen Daten zu dünn sind, wird gern die (kunst-)historische Weltbühne bemüht oder Schlemmers Lebensweg herangezogen. Woher all dieses Wissen kommt, muss ebenfalls unbeantwortet bleiben.
Irritierend sind die verallgemeinernden und dadurch unpräzise werdenden Feststellungen, die die Verfasser bisweilen auf skurrile Weise selbst widerlegen. Hier einige Beispiele: „Reisen waren am Anfang des 20. Jahrhunderts an sich schon keine Selbstverständlichkeit“ (S. 36), heißt es an einer Stelle und dann wird im Gegensatz dazu Darjas (und auch Oskars) Biografie mit häufig wechselnden Lebensorten in (Weiß-)Russland, Deutschland, Dänemark und Norwegen beschrieben. Oder: „Ende 1919 hatte Walter Gropius das Staatliche Bauhaus in Weimar gegründet“ (S. 47) – als offizielles Gründungsdatum gilt allerdings der 1. April 1919. „Ab etwa 1900 experimentierten Tänzerinnen, Tänzer und Choreografen mit neuen Tanzformen unter Ablehnung oder Einbeziehung des klassischen Balletts, so zum Beispiel Mary Wigman, Martha Graham, Gret Palucca, Rudolf von Laban und Isadora Duncan (…)“ (S. 56), abgesehen von der ungelenken Formulierung über Ablehnung und Einbeziehung suggeriert die Aufzählung der Tänzer, dass Wigman vor Laban und Duncan kam. Wigman war aber Laban-Schülerin, Duncan war bereits kurz nach der Jahrhundertwende aktiv und Palucca hingegen startete erst in den 1920er Jahren mit ihrer Karriere durch. Wenn es heißt: „Darja fühlte sich alleingelassen, besonders an Feiertagen wie Weihnachten, die ganz der Familie gehören sollten, und die Schlemmer nie bei ihr verbrachte“ (S. 66), fragt sich der gequälte Leser vielleicht, wie es Tut Schlemmer bei den Besuchen von Darja und deren Kindern in Dessau ging. Darüber erfahren wir nichts, denn Appel (oder Alexei) fühlt sich zum Glück nicht auch noch in Tut hinein. Darüber hinaus verkürzt Appel die Geschichte manches Mal unglücklich: „1953 starb Stalin. Das Land atmete auf (…)“ (S. 82). Dass Stalins Tod eine landesweite Trauer auslöste – es heißt es gab keine Blumen mehr in Moskau für den am gleichen Tag verstorbenen Komponisten Sergei Prokofjew zu kaufen – wird übersprungen und sofort auf die „Tauwetter“-Stimmung geschaut.
Eine Erzählung muss nicht die gleichen Anforderungen wie eine wissenschaftliche Publikation erfüllen, aber präzise und belastbar sollte sie sein. So ist das Buch leider nur eine überflüssige Schmonzette, oder um mit den Buchworten zu schließen: „Rausche, rausche Birke und trockne die Tränen.“ (S. 83)

23.03.2018
Kora g. Polock
Oskar & Darja. Schlemmers Muse. Appel, Sabine; Jekimowski, Alexei. 88 S. 9 Abb. 21 x 14 cm. Hirmer Verlag, München 2017. EUR 17,90. CHF 22,90
ISBN 978-3-7774-2939-7
 
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