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Kindheit – Eine Erfindung des 19. Jahrhunderts.

Eine tolle Sache: Da besitzt ein kleines Museum eine große Reihe von Kinderporträts, schwingt sich auf, dazu eine Ausstellung zu machen und entwickelt einen kunst- und kulturhistorischen Rundumschlag mit angegliedertem Katalog. Mustergültig und vorbildhaft ist das, was in Baden-Baden mit dem Projekt zur „Kindheit“ geschehen ist. Und der Katalog ist ein facettenreiches, kompaktes Stück Literatur, dass sich gut mit der bisherigen Forschung ergänzt, zudem einige bislang eher nur Fachkreisen bekannte Thesen endlich einem breiten Publikum zugänglich macht.
Neun Aufsätze versammelt der Band: Zum Kind in der Musik seit Schumanns „Kinderszenen“ und Humperdincks „Hänsel und Gretel“; Zum Anker-Steinbaukasten – einem unternehmerischen Erfolgsmodell, das den Zeitgeist traf und seinen Vermarkter, nicht aber seine Erfinder (die Brüder Lilienthal) reich machte; Zur Kunstpädagogik, mit der – angeführt etwa durch den Direktor der Hamburger Kunsthalle, Alfred Lichtwark – Kinder an das Abzeichnen und damit das Erkennen ihrer Umwelt herangeführt werden sollten; Zu allerlei pädagogischen Hilfsmitteln, wie Lesemaschinen, Buchstabenfibeln, Linienheften, die von den deutschen Regierungen und den jeweiligen Kultusministerien aufs genaueste beäugt, getestet und reglementiert wurden; Zu Lesebüchern, mit deren Übungstexten man den Kindern nicht nur Lesen, sondern auch das Untertanensein beibrachte, indem man sie gott- und staatsgefällige Texte rezipieren ließ.
Am Ende ist der Leser verblüfft – wie im Falle des Rezensenten vielleicht auch von seiner eigenen Naivität dem reformpädagogischen Impetus der Pestaolzzi-Fröbel-Zeit gegenüber. Denn nachdem – so ist bei der Lektüres des Bandes zu lernen – man recht eigentlich mit Rousseau im 18. Jahrhundert die „Kindheit“ erst erfunden hatte und die lieben Kleinen jetzt aus den Fabriken entließ, um sie in die Schule zu stecken, institutionalisierte man die „Kindheit“ nun. Kinder durften dabei freilich auch weiterhin nicht Kindsein, sie mussten Kindsein – genauer: das, was die Erwachsenen jetzt als solches definierten. Liebevolle Pädagogik und rührendes Sich-Kümmern um die Kleinen ist hier – horribile dictu – nichts anderes als die Kehrseite der Industrialisierung, die als ungebremster Kapitalismus jede Faser des Lebens durchdrang. Eben auch die Familie, und damit den Nachwuchs. Statt die Kinder weiterhin persönlich malochen zu lassen verschob sich nun die Idee vom Humankapital hin zu einem komplexeren Modell: Bildung war fortan eine wichtige Ressource. Und sie sollte sich in barer Münze auszeichnen (wie auch heute noch Eltern in Kinder „investieren“).
Ihren gut lesbaren spannenden Hintergrundtexten haben die Katalogmacher eine fast das gesamte Buch durchlaufende Bildstrecke unterlegt, die sich wie ein subtil-ironischer visueller Subtext zur gestrengen Sittenlehre der deutschen Kindheitsnormierer und ihrer Instrumente verhält – ein Subtext, der im Rahmen des Katalogs übrigens gar nicht weiter eingeordnet oder kommentiert wird, sondern als Bildstrecke ganz für sich selbst steht. Und siehe da: es funktioniert. Da sind vor allem die Litografien Honoré Daumiers, der in vielfachen Varianten die Aufmüpfigkeit der Kinder in deren für die Zeit vergleichsweise neuen Kontext thematisiert. Stolze Väter präsentieren ihre Söhne, während diese gelangweilt in der Nase popeln. Lehrer sind hinterm Katheder eingenickt. Meisterschüler und Klassenerste werden als eitle Streber entlarvt. Herrlich zu sehen, wie in diesem Rabaukentum die Modelle der Pädagogen von ihrem unerzogenem Zielpublikum so richtig auf den Kopf gestellt werden!
Kurzum: in diesem Begleitbuch hat man nicht nur zu lesen und – dank Literaturverzeichnis (ein Register fehlt leider) – weiterzulesen, sondern auch viel zu schauen: Ein anregender Band zu einem Thema, das noch heute beschäftigt und bewegt, auch wenn die Kinder selbst eine anrührende Seltenheit geworden sind.

04.02.2014
Christian Welzbacher
Kindheit. Eine Erfindung des 19. Jahrhunderts. Hrsg.: Winzen, Matthias. 288 S. zahlr. z. T. fb. Abb. 24 x 17 cm. Gb. Athena Verlag, Oberhausen 2013. EUR 19,00. CHF 33,00
ISBN 978-3-89896-549-1
 
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