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Atmosphären. Duftkerzen für das eigene Denken

Bilder, die eine eigene Form von Lebendigkeit vermitteln, Texte, die von der Inspiration ihrer Autoren miterzählen, Gegenstände, deren Design im Käufer an wohlige Gefühle appellieren, Theorien, in denen ein aktuelles Denken zeitgleich auch das Lebensgefühl eines Moments oder eines Lebens zum Ausdruck bringen.
Was hier etwas umständlich aufgezählt wird, lässt sich auf einen Begriff bringen, der seinerseits etwas von seiner gegenwärtigen Faszination erzählt: Atmosphären. Nicht ohne Grund wird der Band Atmosphären. Dimensionen eines diffusen Phänomens durch eine wiederabgedruckten Text jenes Autors eingeleitet, der neben Gernot Böhme wie kein anderer in den letzen Jahrzenten den Atmosphärendiskurs geprägt und damit buchstäblich ein weites atmosphärisches Feld aufgespannt hat, in dem sich inzwischen auch seine Schüler tummeln: Peter Sloterdijk, dessen unnachahmlicher Gestus des schnellen, assoziativen Denkens und Formulierens bereits im Titel Programm wird: Anthropisches Klima. Jenseits von den im vorliegenden Band auch thematisierten realen Klimabedingungen des Wetters und der uns bevorstehenden Klimakatastrophen, ist der Raum des imaginär Atmosphärischen in Sloterdijks Denken ebenso fest verankert wie auch in permanent flüssiger Form - als Unruhe und nervöse „Vertikalspannung“ (Peter Sloterdijk) – vorhanden.

Der Sloterdijkschüler Marc Jongen nimmt im zweiten Beitrag des Bandes die Steilvorlagen des Meisterdenkers auf und philosophiert dann über die Kunst des Witterns: “
"Der witternd Erkennende muss demnach das Kunststück fertig bringen, ganz löslich zu werden für ein geistiges … Milieu, sich ganz zu verströmen und gleichzeitig ganz konzentriert bei sich zu bleiben, um das, was er als Verströmender erfährt, in artikulierter Begriffssprache zum Ausdruck zu bringen.“

Der größte Teil der in diesem Band versammelten Aufsätze verbleibt dann in dem diffusen Diskurs und der nebeligen Kontingenz, die der Begriff des Atmosphärischen notwendig mit sich bringt. Zu Recht: Das Atmosphärische sperrt sich – zum Glück – gegen jede vorschnelle Explizitmachung ihrer jeweiligen Welten. Interessant ist die Einsicht, dass die Psychotheorie des Atmosphärischen dem eigenen Denken nicht nur flinke Beine macht – sondern vor allem auch das Gefühl einer schnellen, assoziativ gesteigerten, lebendigen Anteilnahme vermittelt, die in den Jahrzehnten des Aufbruchs gegen Ende des XX. Jahrhunderts so noch unvorstellbar waren.

Jeder, der heute Bücher, Autoreifen oder Bio-Marmelade konsumiert, konsumiert Wünsche, Träume oder Bilder. Der Bezug des Atmosphärischen ist ohne den falschen Schein der Konsumgesellschaft nicht denkbar. Die Wünsche, die durch Waren erst hervorgebracht werden, ähneln möglicherweise den Theorien und Witterungsversuchen jener AutorInnen, die heute im Sog von Sloterdijk, Böhme und anderen neue Atmosphären-Künste erzeugen. Doch, bleibt ihnen noch anderes übrig, wenn sie von ihren Imaginationen schließlich auch noch leben wollen?
Ein abschließender kritischer Blick auf das eigene Tun, hätte dem Band – so anregend seine Lektüre im Ganzen ist – vielleicht noch gut getan. Die Gefahr des Atmosphärikers besteht ja darin, alles mit Allem in eine Wolke aus intelligent zugespitzter Selbstunterhaltung zu hüllen – gewissermaßen Duftkerzen, die das eigene Denkklima angenehm gestalten.
Der atmosphärisch Schreibende ist jemand, der in der Lage ist, unterschiedlichste (Theorie-)Fragmente, Erinnerungs- und Denksplitter und „breaks“ von Informationswirklichkeiten so mit einander zu kombinieren, dass im Moment des Schreibens etwas Neues, eben eine Atmosphäre des Besonderen, entsteht. Think different - einfach den Mut haben, den gängigen mainstream zu verlassen und diesem etwas anderes Eigenes entgegen zu setzen – diese (selbstkritische) Lehre kann nach der Lektüre dieses Bandes nicht die Schlechteste nicht sein.

28.11.2012
Michael Kröger
Atmosphären. Dimensionen eines diffusen Phänomens. Hrsg.: Heibach, Christiane. Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2012. 328 S. Engl. Br. EUR 34,90. CHF 44,90
ISBN 978-3-7705-5420-1
 
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