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Der doppelte Kirchner

Dass Künstler hier und da die Rückseiten ihrer Leinwände bemalten, ist nicht neu. Doch bei so berühmten Künstlern wie Ernst Ludwig Kirchner, dessen frühe Gemälde bei Kunsthändlern besonders hoch im Kurs stehen sind sie ein Kuriosum, ein Kirchner als Wendebild, genial. War der Preis eines „Vorderseiten-Kirchners“ für den Käufer noch einigermaßen erschwinglich, dürfte eine später vorgefundene Rückseite auf dem heutigen Kunstmarkt Höchstpreise erzielen.

Dabei war es bei der Zweitverwendung der Leinwand nicht Kirchners Absicht, Geld zu sparen, vielmehr hatten sich seine Interessen und Themen in der Abgeschiedenheit der Davoser Berge verändert, und es war ihm, meint der Sammler und Galerist Eberhard Kornfeld, zu mühsam, neue Leinwände zu beschaffen.
Nachdem Kirchner den 1. Weltkrieg zwar physisch überlebt hatte, aber psychisch noch bis zu seinem Selbstmord 1938 an den Folgen litt, waren die wilden Berliner Jahre so weit weg wie das Paradies von der Hölle. Mit Morphium versuchte er seiner Qualen Herr zu werden. Kirchner malte nun Berglandschaften, einfache Menschen seiner Davoser Umgebung, wohin er nach längeren Aufenthalten im Königsteiner Sanatorium Dr. Kohnstamm 1917 gezogen war. Die Dresdner Jahre und Berliner Szene waren vorbei, wurden zur „Rückseite“ seines Lebens und seiner Kunst.

Der Film auf der vom Hessischen Rundfunk herausgebrachten DVD berichtet von immerhin 130 „Doppelgemälden“ Kirchners. Unter anderen Gemälden findet sich auf der „Vorderseite“, der „Spätseite“, ein Hirtenjunge, und auf der älteren „Rückseite“ eine Berliner Nachtballszene. Ein anderes „Wendebild“ zeigt eine Holzfällerszene und einen liegenden Akt aus der Dresdner Zeit.

Trotz zunehmender Anerkennung seiner Kunst während der 1920er Jahre fühlte sich Kirchner unverstanden und stand bis an sein Lebensende mit den ehemaligen Freunden der Künstlergruppe „Brücke“ auf Kriegsfuß. Vom Expressionismus wollte er nichts mehr wissen, obwohl seine jüngeren Werke zunehmend flächiger, kantiger, expressiver wurden und bei den Nationalsozialisten weiterhin als „entartet“ galten.

Die Zerrissenheit Kirchners geben die wenigen ausgewählten Beispiele seiner Doppelgemälde auf der vorliegenden DVD eindrucksvoll wieder, wenngleich das Gesamtwerk Kirchners im Ausstellungskatalog von 2010 (Kirchner, Hatje-Cantz, Ostfildern 2009, ISBN 978-3-7757-2552-1) sicherlich umfassender und damit tiefgründiger nachzuvollziehen sein dürfte.

Zusätzlich zum Film „Der doppelte Kirchner“ enthält die DVD eine 13-minütige Dokumentation der großen Ernst Ludwig Kirchner Retrospektive, der 2010 im Frankfurter Städel-Museum gezeigten Ausstellung mit Erläuterungen des Direktors Max Hollein, dem Ausstellungskurator Felix Krämer und dem Gemälderestaurator Stephan Knobloch.

10.08.2011

Gabriele Klempert
Dickenberger, Barbara. Der doppelte Kirchner. Die Rückseiten im Werk von Ernst Ludwig Kirchner. 1 Foto(s). DVD-Box. Hessischer Rundfunk, Frankfurt 2011. EUR 9,99.
ISBN 978-3-89844-335-7
 
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