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Christoph Schlingensief: Deutscher Pavillon 2011

Eine Form der Einmischung.

Christoph Schlingensiefs großes, komplexes Werk ist jetzt im Deutschen Pavillon auf der Biennale in Venedig zu sehen – kuratiert von MMK-Direktorin Susanne Gaensheimer. Zur Ausstellung ist ein Katalogbuch erschienen, das den vor kurzem verstorbenen Künstler umfassend vorstellt.

Als bekannt wurde, dass der Deutsche Pavillon bei der 54. Biennale in Venedig von Christoph Schlingensief bespielt werden würde, gab es alles andere als ein Einverständnis darüber. Es galt als große Überraschung – und noch gut in Erinnerung geblieben ist etwa Gerhard Richters Kommentar, es gäbe 1000 Künstler, die das doch viel eher machen sollten.

Für Richter war Schlingensief als Nicht-Bildender Künstler nicht autorisiert, Deutschland auf der Biennale zu vertreten. Und als Künstler im klassischen Sinn hat sich Christoph Schlingensief selbst auch nie gesehen. Seine Arbeit solle stets einen sozialen Gedanken haben, hat er einmal gesagt.

In wenigen Tagen wird nun die Biennale eröffnet – und wer nicht in die Lagunenstadt reisen kann, dem sei ein gerade erschienener Band empfohlen, der Schlingensiefs Werk umfassend vorstellt. Herausgegeben von Biennale-Kuratorin und MMK-Direktorin Susanne Gaensheimer macht das Buch Rückblicke möglich – führt in Schlingensiefs weitverzeigtes Schaffen ein.

Ursprünglich war es die Idee, in Venedig ein neues Projekt des Künstlers zu zeigen, doch sein Tod verhinderte die Durchführung. So entschied sich die Kuratorin für eine Art Retrospektive in Miniaturausgabe. Einen solchen repräsentativen Eindruck vermittelt auch das Buch, ein Schlingensief-Reader, der sämtliche Tätigkeitsbereiche des Künstlers, seine Arbeit fürs Theater, seine filmischen Arbeiten und sein Engagement für das Operndorf in Afrika umfassend vorstellt.

Alle Teile der Inszenierung in Venedig werden in dem Buch in Texten und Bildern gezeigt, wie etwa das 2008 bei der Ruhrtriennale aufgeführte szenische Oratorium „Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir“. In Venedig sind ebenfalls sechs ausgewählte Schlingensief-Filme zu sehen, nämlich „Menu Total“, „Egomania“, „Deutschlandtrilogie“, „Das deutsche Kettensägenmassaker“, „Terror 2000“ und „United Trash“. Auch das von Christoph Schlingensief initiierte Operndorf in Burkina Faso wird im Pavillon vorgestellt.

Die Ausstellung in Venedig wird eine Schau über den 1960 in Oberhausen geborenen Künstler sein, denn, so Gaensheimer, „Es geht nicht, etwas zu Ende zu führen, was nicht zu Ende war“. Und so ist auch dieses Buch konzipiert: als eine Hommage, in dem auch Freunde zu Wort kommen. Die Beiträge von etwa Frank Castorf, Diedrich Diederichsen, Elfriede Jelinek, Alexander Kluge, Boris Groys und Frank-Walter Steinmeier erzählen von den persönlichen Erlebnissen mit dem Künstler, der in der Tradition von Joseph Beuys die Kunst als eine soziale Angelegenheit verstanden hat.

Immer wieder hat Schlingensief betont, dass die Schönheit der Kunst nur im Unperfekten liegen kann, im offenen Prozess. Das Durchgeplante des Kulturbetriebs, das war seine Sache nicht. Schlingensief, denken wir beim Blättern und Lesen in diesem Buch, war Beuys so ähnlich, nur das er, wie es Elfriede Jelinek ausgedrückt hat, noch besser als dieser darin war, „den Herrschenden die Zustände wie eine Torte ins Gesicht“ zu schmeißen. Gaensheimer, so heißt es, dachte tatsächlich kurz darüber nach, ob sie den Pavillon einfach leer lassen könne. Doch nun will sie der Welt erklären, wer Schlingensief war.

Dieses Buch hilft dabei, die Kunst jenes Mannes zu verstehen, der die eigenen Brüche, die eigenen Zweifel, die eigene Leiderfahrung, die „Gewissheit, dass es keine Lösung gibt“, zum Grundthema seines Schaffens erklärte – der der Kunst Beine machte, sich im 21. Jahrhundert neu zu definieren, als eine Form der Einmischung, als ein Testlabor, wie Elisabeth Schweeger in ihrem Buchbeitrag schreibt.

27.06.2011
Marc Peschke
Susanne Gaensheimer: Christoph Schlingensief. Deutscher Pavillon 368 S. Kiepenheuer & Witsch, 2011. EUR 29,99
ISBN 978-3-462-04343-3
 
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