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Handbuch Buchwissenschaft

Dem Buch war der Schriftsteller Marcel Proust (1871-1922) seit seinen Kindertagen in besonders enger Weise verbunden und so spielen Bücher in vielen seiner Werke eine große Rolle. Aber auch andere Autoren widmeten sich in ihren Werken immer wieder Büchern und es erscheinen jedes Jahr auch Sachbücher zum Thema Buch, Bibliotheken oder Lesen. Erforscht wird dieses Objekt von Buchwissenschaftlern, wie z.B. von Ursula Rautenberg, Professorin und Leiterin des Fachbereichs Buchwissenschaft an der Universität Erlangen-Nürnberg. Sie gab das zweibändige Handbuch „Buchwissenschaft in Deutschland“ heraus, das 2010 beim Verlag Walter de Gruyter erschien. Es soll sowohl der fachinternen Kommunikation dienen, als auch die Leistungen der Disziplin nach außen herausstellen. Zu diesem Umfeld der Buchwissenschaft gehören geisteswissenschaftliche, aber auch sozialwissenschaftliche Nachbardisziplinen. Aus diesem Umfeld gewann sie zweiundvierzig Autoren, die entlang ihrer Forschungsschwerpunkte, Beiträge zu diesem Handbuch liefern und unterschiedliche Aspekte des Themas Buch beleuchten. So geht es im ersten Band in der ersten Sektion um Themen, die buchwissenschaftliche Fragen unter medienwissenschaftlichen Aspekten behandeln. Der zweite Teil des ersten Bandes, der mit „Forschungsberichte“ betitelt wurde, widmet sich Fragen zur Leseforschung, Lesegeschichte und zur Lesersoziologie sowie zum herstellenden und verbreitenden Buchhandel. Im zweiten Band werden Studium und Lehre, Fachkommunikation und Institutionen ebenso behandelt wie Forschungsbibliotheken und Museen sowie das Feld der Bibliophilie und Buchkunst.


Teil 1: Handbuch: Buchwissenschaft als Inter- und Transdisziplin

In der umfangreichen Einleitung von Rautenberg wird deutlich, dass es buchwissenschaftlich intern noch keinen Konsens hinsichtlich eines einheitlichen Buchbegriffs gibt. Einen solchen zu entwickeln, ist daher auch Aufgabe der Buchwissenschaft und so wird dieser Aspekt in einigen Beiträgen auch thematisiert. Zunächst jedoch gibt Rautenberg in ihrer Einleitung einen Lagebericht zur Behandlung buchwissenschaftlicher Forschung. Als Träger buchwissenschaftlicher Forschung galten im 19. und 20. Jahrhundert Bibliothekare und Bibliotheken. Ausgelöst durch Veränderungen im Aufgabenzuschnitt der forschenden Bibliotheken, die sich, unter der „Dominanz der elektronischen Datenverarbeitung“ und dem Auftreten „wirtschaftlichen Denkens“ zu „Informationsdienstleistern“ und „Ausstellungsmachern“ wandelten, sei buchwissenschaftliche Forschung inzwischen auf „Universitäten und Buchwissenschaftler übergegangen.“ Die Lage der universitären Buchwissenschaften, die inzwischen an fünf Universitäten, Münster, Leipzig, Erlangen-Nürnberg, Mainz und München, vertreten sind, sieht Rautenberg, wegen deren „marginaler“ Ausstattung als wenig komfortabel an, zumal andere wissenschaftliche Disziplinen sich ebenfalls mit buchwissenschaftlichen Fragestellungen befassen. Diese Lage berücksichtigend, operierte Rautenberg bei der Herausgabe des Handbuchs geschickt und band Wissenschaftler anderer Disziplinen, die sich mit buchwissenschaftlichen Fragestellungen befassen, in das Gesamtprojekt ein. Das ist ihr gut geglückt. Nicht nur wartet das Handbuch mit einer beeindruckenden thematischen Breite und Tiefe auf, sondern es zeigt auch, das der Erforschung des Buches in anderen wissenschaftlichen Disziplinen Aufmerksamkeit geschenkt wird. Umgekehrt bedeutet dies aber auch, dass eine Buchwissenschaft per se inter- und transdisziplinär angelegt sein muß, will sie alle Facetten des Buches erforschen. Sie hat kulturelle, mediale, technische, soziologische, ökonomische und politische Aspekte zu berücksichtigen. Auslassungen einer dieser Aspekte im Handbuch sollten daher begründet werden. Dies tat Rautenberg in der Einleitung auch hinsichtlich Buchherstellung, Buchillustration und zum Text-Bildverhältnis. Der ökonomische Aspekt kam jedoch zu kurz. Es ist Rautenberg zuzustimmen, dass es zu diesem Bereich wenige Arbeiten gibt. Einige wurden im Handbuch erwähnt, nicht jedoch Manfred Tietzels, 1995 erschienenes Werk „Literaturökonomik“ (Verlag Mohr-Siebeck) oder Spezialuntersuchungen zu den besonderen ökonomischen Bedingungen bei Herstellung und Vertrieb von wissenschaftlichen Büchern. Zwar spielen rechtliche Aspekte des Buches in verschiedenen Beiträgen eine Rolle, werden jedoch en passant behandelt und es fehlt daher ein Überblick über grundlegende Forschungsliteratur aus dem Bereich der Politik- und Rechtswissenschaft, die sich mit den durch die Politik gesetzten rechtliche Rahmenbedingungen im Bereich des Urheberrechtes und des Kartellrechtes (Preisbindung für Bücher) befasst. Beide Instrumente bilden gleichermaßen das Fundament des Buchmarktes. Publiziert werden Forschungsbeiträge zu diesem Aspekt hauptsächlich bei der Nomos Verlagsgesellschaft, aber auch anderen Verlagen wie C.H.Beck. Dieses Fehlen kann im Zusammenhang damit gesehen werden, dass die Buchwissenschaft noch nicht in dem Maße, wie andere wissenschaftliche Disziplinen, etabliert ist und sowohl um Anerkennung im Wissenschaftssystem, aber auch intern, um ihr Selbstverständnis, ringt. Beide Aspekte spricht Rautenberg in ihrer Einleitung an. Einige Autoren bestätigen diesen Befund und sprechen darüber hinaus von einer „Untertheoretisierung“ der Buchwissenschaft. Deutlich wird dieser Prozess der Findung auch daran, dass fast jeder Beitrag im Handbuch mit einer Aufstellung von Forschungsdesideraten endet. Eines davon betrifft den Buchhandel der Frühen Neuzeit im deutschsprachigen Sprachraum.


Buchwissenschaft und Medien / Mediengesellschaft

Das Spektrum der Fragen in der Buchwissenschaft ist also breit gefächert und dementsprechend sind es auch die Beiträge in diesem Übersichtswerk. Theoretisch ambitioniert geht die erste Sektion im ersten Band zu Werke. Sowohl Ulrich Saxer, als auch Helmut Schanze und Georg Stanitzek bemühen sich um eine begriffliche Fassung des Buches und um eine Konzeption der Buchwissenschaft im Wissenschaftsgefüge geisteswissenschaftlicher Nachbardisziplinen. Sven Grampp gibt eine Übersicht über verschiedene Medientheorien, wie z.B. Jacques Derrida oder Marshall Mc Luhan vorgelegt haben. Wünschenswert wäre gewesen, die ausgezeichnete Einführung „Medientheorien“ von Alice Lagaay und David Lauer (Campus Verlag) bibliographisch zu erwähnen. Recht häufig wird im Handbuch von einer Informations- und Mediengesellschaft gesprochen, sozialwissenschaftlich ist eine solche Beschreibung jedoch umstritten. So ist der Sozialphilosoph Axel Honneth der Auffassung, dass sich gesellschaftliche Entwicklungstendenzen, nicht mehr mit einer einzigen integralen Beschreibung fassen lassen.

Teil 2: Handbuch: Bücherwissen, Lesen, Buchhandel

Obwohl die Beiträge im ersten Teil des ersten Bandes auch als „Forschungsberichte“ gelten könnten, wurde lediglich der zweite Teil des ersten Bandes damit betitelt. So schreiben Sonja Glauch und Jonathan Green zum „Lesen im Mittelalter“ und Arno Mentzel-Reuters zum „Nebeneinander von Handschrift und Buchdruck im 15. und 16. Jahrhundert“. Deskriptiv angelegt bietet der zweite Band überwiegend Internes. So werden neuere Lehr- und Fachbücher und Fachlexika ebenso vorgestellt wie Fach- und Wissenschaftsportale und die fünf Standorte buchwissenschaftlicher Lehre und Forschung. Es folgen Darstellungen zur Ausbildung des Branchennachwuchses an der Hochschule für Medien in Stuttgart, Wissenswertes zur Ausbildung wissenschaftlicher Bibliothekare und zur Digitalisierung von Büchern. Den deutschsprachigen Raum im Blick, geht es in einem weiteren Beitrag um das Lehrprogramm Buchwissenschaften an der Universität St.Gallen und in einem anderen um die Situation der Buchwissenschaft in Österreich. Leider kommt dieser Teil ohne eigenes Kapitel zum Buchhändlercampus in Frankfurt am Main aus, dafür gibt es unter der Überschrift „Forschungsbibliotheken und Museen“ eigene Kapitel zu buchwissenschaftlichen Fragestellungen, denen an der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel, in den Franckeschen Stiftungen in Halle an der Saale, am Gutenberg-Museum in Mainz, dem Deutschen Literaturarchiv in Marbach am Neckar und im Deutschen Buch- und Schriftmuseum der Nationalbibliothek in Leipzig nachgegangen wird. Vorgestellt werden auch der Wolfenbütteler Arbeitskreis für Bibliotheks-, Buch- und Mediengeschichte, die Internationale Buchwissenschaftliche Gesellschaft, die Historische Kommission des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels und einige Gesellschaften im Bereich Bibliophilie und Buchkunst. Diese Beiträge, aber auch der von Monika Erstermann zur Buchhandelsgeschichte, sind zwar fachintern bereits teilweise bekannt, bieten dafür jedoch Nachbardisziplinen Übersichten und Einstiege.

Feldforschung

Rautenberg übernahm eine große Aufgabe, Buchwissenschaft in der Vielfalt seiner Facetten vorzustellen. Sie gewann dafür namhafte Beiträger, die durchweg gut verständlich und kenntnisreich schreiben, so dass ein homogenes zweiteiliges Werk entstand. Dass der Verlag Walter de Gruyter den Doppelband als „Handbuch“ ausweist, war wohl nicht ganz in Rautenbergs Sinn. Dies darf man ihrer Einleitung entnehmen, in der sie ja darauf hinwies, dass nicht alle Aspekte des Buches behandelt werden konnten. Er trifft, über ihre Einlassungen hinausgehend auch die Sache, wie am Beispiel des Ökonomischen und Rechtlichen, ausgeführt wurde. Ein Aspekt kommt hinzu und betrifft den Bereich Soziologie. So wurden in den Beiträgen von Axel Kuhn / Sandra Rührs bzw. von Alfred Messerli soziologische Aspekte zur Lese- und Leserforschung bzw. zu Lesestoffen behandelt und auf die entsprechende Fachliteratur dazu verwiesen, auf das Feld Wissenssoziologie und Wissensforschung wurde jedoch zu wenig abgehoben. Ein Hinweis auf das von Rainer Schützeichel herausgegebene „Handbuch Wissenssoziologie und Wissensforschung“, das 2007 beim Universitätsverlag Konstanz UVK erschien, wäre jedoch angemessen, da sein Gegenstand, Wissen, zum Einzugsbereich des im Handbuch Buchwissenschaft behandelten Spektrums gehört. Der im Handbuch verwendete Terminus „Information“ greift theoretisch zu kurz, denn Informationen müssen sinnvoll verknüpft werden, damit sich Wissen bzw. Erkenntnis einstellt. Diesen Zusammenhang bedenkend, fand in der Wissenschaft eine Umpolung von ‚Information‘ auf ‚Wissen‘ statt.

Buch und Lektüre

Dem „verehrungswürdigen Erfinder der Buchdruckerkunst...Gutenberg“ widmet Proust eine Textsequenz in seinem Roman „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ und dem Lesen ist er in seinen Essays „Tage des Lesens“ auf der Spur. Auf die Spur des Lesens wiederum setzte sich Stanislas Dehaene in seinem 2010 beim Knaus Verlag erschienenen Buch und titelt „Lesen“ und fasst es als „größte Erfindung der Menschheit“. Die Faszination für das Objekt Buch und dessen Lektüre ist also ungebrochen und es wird, nicht zuletzt in Büchern, dafür geworben. Eine besonders schöne Idee dazu hatte auch der Bajazzo Verlag 2010 mit dem Buch „Der Marabu“. In Christian Morgensterns Liebeserklärung streckt der Marabu seinen Hals nicht in die Höhe, sondern senkt ihn, wo er geht und steht, ab. Er liest in einem Buch und wird dabei von den poetischen Illustrationen von Ninon Seydel kongenial begleitet. Dass das Buch eine Zukunft hat, davon sprechen beide Bücher und man wünscht ihnen weite Verbreitung. Eine solche wünscht man auch dem von Rautenberg herausgegebenen Handbuch, das von de Gruyter in lindgrünes Leinen gepackt wurde und der Buchwissenschaft in Deutschland damit den Auftritt verschaffe, den sie, als Wissenschaftsdisziplin verdient hat.

24.09.2010
Sigrid Gaisreiter
Buchwissenschaft in Deutschland. Ein Handbuch. Hrsg.: Rautenberg, Ursula. 1109 S., 21 Abb. 23 x 16 cm, Ln. De Gruyter, Berlin 2010. EUR 149,95.
ISBN 978-3-11-020036-2
 
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