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Karl Schmidt-Rottluff - Künstlerpostkarten

Die photographierte Stadt- und Landschaftsvedute geht um 1870 als Ansichtskarte auf Reisen. Im Jahrzehnt der Erfindung des Veloziped und des Telephons eigentlich nicht verwunderlich. Die Ansichtskarte wird in Oldenburg erfunden. Zum ersten Mal in der Geschichte der Kommunikation seit Erfindung der Schrift wird das Bild wichtiger als der Text. Was machen die Künstler daraus? Zunächst eher wenig: Folkloristisches, Genre und eher witzblatthafte Karikatur nach Art des “Ulk“ oder der „Meggendorfer Blätter“. Selbst Lovis Corinth bringt es 1905 nur zu einem recht bilderbuchhaften „Orpheus unter den Haustieren“. Erst die Generation des Expressionismus begreift das neue Medium als eigenständige, angemessene und teils durchaus monumentale Möglichkeit, Bildideen und Konzepte schnell und einfach zu verbreiten. Bereits Ernst Ludwig Kirchners erster Holzschnitt wird 1904 als Postkarte versandt. Ja, er war offenbar von vornherein nur zum Druck auf Postkarten bestimmt. Noch scheint das Vorbild einer Satire-Zeitschrift wie etwa des „Simplicissimus“ hindurch, die selbst Karten herausgab. Sehr bald wird die gezeichnete Postkarte zum idealen Austauschmittel der nicht mitteilsamen „Brücke“-Maler werden.

Wer von den „Brücke“-Malern die erste gezeichnete Karte versandte, ist nicht mehr klärbar, denn alle Mitglieder der Gemeinschaft beginnen 1909 damit. Nach Kirchners Karte „Soldat und Kokotte“ vom 12. Januar (Hedinger Nr. 73) und Pechsteins Porträt „Schmidt-Rottluff“ vom 11. März (Presler S. 36) [die nicht vom Porträtierten mitgestaltet wurde, wie Gerd Presler vermutete] bringt der Sommer dieses Jahres den Durchbruch, jener Sommer 1909, in dem der gemeinsame „Brücke“-Stil seine ausgereifte Form findet: Kirchner (Hedinger Nr. 74 und 75) und Schmidt-Rottluff (Hedinger Nr. 127) versenden ihre ersten Karten am 6. September, Heckel am 7. Oktober (Hedinger Nr. 106). Der 35. Geburtstag der Kunsthistorikerin Rosa Schapire am 9. September 1909, den sie in Dangast feiert, wird für Karl Schmidt-Rottluffs Kartenperiode, die bis 1934 andauert, symbolträchtig.
Die mit zwei Karten beglückwünschte Hamburger Mentorin, Sammlerin und Propandistin erhält nicht nur (fast) die ersten Karten, sie wird auch Empfängerin der meisten jener Kleinkunstwerke (insgesamt 118 Karten der „Brücke“-Maler), und es ist auch das thematisch am weitesten gefächerte Panorama, das ihr gilt. Die Korrespondenz mit Rosa Schapire scheint dem Rezensenten zudem das künstlerische Rückgrat der Künstlerkarten des Malers S-R. zu sein. Mit dem beginnenden NS-Regime und der dann erfolgenden Emigration Schapires bricht die Kartenproduktion Schmidt-Rottluffs bezeichnenderweise denn auch ab. Für deren gezielte Verbreitung hat sie, wie kein anderer Adressat, noch aus der Emigration heraus durch Vermächtnisse gesorgt. Rosa Schapire hat ihre Schmidt-Rottluff-Karten von London aus nach Leicester (10) und Tel Aviv (8), aber auch nach Berlin (9), Hamburg (9), Köln (11) und Mannheim (10) vererbt. Ihre Nachlaßverwalter haben darüber hinaus die Museen in Altona (24) und Oldenburg (mit Graphik, allerdings nicht mit Karten der „Brücke“) bedacht. Das Werkverzeichnis dieser Kleinkunstwerke zu schreiben, war ihr allerdings nicht mehr vergönnt. Dies hat nun Gerhard Wietek getan.

Damit schließt sich der Kreis, denn bereits 1958 hatte Wietek die Karten der „Brücke“ an Rosa Schapire als Insel-Buch herausgegeben und bald darauf ihre dem Vergessen anheimgefallene Biographie rekonstruiert. 1962 schloß sich Wieteks Altonaer Band „Bemalte Postkarten und Briefe deutscher Künstler“ an, dem nach mehreren Aufsätzen und der kleinen Gießener Ausstellung K.F. Ertels (1972), 1972 der Altonaer Katalog „Kunst und Postkarte“ (Wietek zusammen mit Gerhard Kaufmann und Manfred Meinz) und 1977 die Sammelausstellung „Gemalte Künstlerpost“ folgen sollten. Spätestens damit war das Altonaer Museum als erste Adresse der Künstlerkarte in Deutschland etabliert.
Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß Schmidt-Rottluff selbst dieses Buch begrüßt hätte. Als Gerhard Schack 1976 die Postkarten der „Brücke“-Maler, des zeitweiligen „Brücke“-Mitglieds Nolde und Edvard Munchs an den Hamburger Landgerichtsdirektor und Sammler Gustav Schliefler herausgab, lag Schmidt-Rottluff dieses Werk so sehr am Herzen, daß er es sponserte. Folgerichtig ist es dem Künstler dann zum 90. Geburtstag gewidmet worden. Er war auch Anlaß für die erste von Gerhard Wietek initiierte große Schmidt-Rottluff-Ausstellung in Altona, der zehn Jahre später eine solche in Schleswig folgen sollte, wobei in beiden Fällen die Postkarten wesentlich mit einbezogen wurden.
1992 erschien wiederum in Altona Bärbel Hedingers grundlegender Sammelband „Die Künstlerpostkarte“. Interessanterweise enthält das Buch keinen Beitrag über die reichlich vertretenen „Brücke“-Karten. (Als Beitrag zum Expressionsmus hat Peter-Klaus Schuster dort über Franz Marcs Karten an Else Lasker-Schüler geschrieben.) Zwei Jahre zuvor hatte Gerd Presler die Karten der „Brücke“ an Rosa Schapire einer neuen Edition für eine Ausstellung in der Mannheimer Kunsthalle unterzogen, wobei die einzelnen Karten-Motive, ihre Adressaten und die Texte allerdings nicht kommentierend bearbeitet und die Texte nicht immer und oft nicht lückenlos mitgeteilt wurden.

Nun liegen alle 224 bekannten Karten Schmidt-Rottluffs also in einem Oeuvre-Verzeichnis vor, das opulent und kompendiös zugleich ist. Der Doyen der Schmidt-Rottluff-Forschung hat damit einen Werkkreis des Malers erschlossen, der der Wesensart dieses als Mensch und Künstler gleichermaßen großen Lakonikers besonders gemäß ist, ein sympathisches Medium, kongenial erfaßt: wortkarg und bildmächtig. War die frühe Künstlerkarte zuerst und vor allem ein expressionistisches Ereignis, namentlich des „Blauen Reiter“ und der „Brücke“, so scheint Karl Schmidt-Rottluff derjenige Künstler gewesen zu sein, dem die zeichenhaft verknappende (Wietek gebraucht hierfür den Begriff „heraldisch“), die große Form umreißende aber keineswegs skizzenhafte Aneignung auch im Kleinstformat besonders gemäß war. Jedenfalls gewinnt er auch der Postkarte mit seinen bildnerischen Möglichkeiten eine im Kontrast zu deren wirklichem Format stehende Monumentalität ab, die nichts Konzeptionelles besitzt. Schmidt-Rottluff neigt auch bei ihr zur fest gefügten, endgültigen Lösung. Ob die Kunsthistorikern wie Rosa Schapire oder Wilhelm Niemeyer zugedachten Karten, die später im Großen ausgeführte Bildmotive zeigen (z.B. Wietek Nr. 11), als ein Zur-Diskussion-Stellen des Motivs gemeint waren, ist nicht mehr ermittelbar (der Briefwechsel Schapires mit Schmidt-Rottluff mußte leider vor der Emigration vernichtet werden), kann aber bezweifelt werden. Zwar werden Bilderfindungen − besonders an Rosa Schapire − erstmals vorgestellt oder Bildsujets vermittelt; grundlegend verwandelt werden sie nicht, sie erscheinen großenteils kaum oder unverändert auch im übrigen Å’uvre.
Die zeitliche Interferrenz von Vorbild und Abbild fällt dabei meistens zugunsten der Karte aus (Wietek Nr. 11, 27, 29, 32, 40 usw.), wobei Kartenmotive öfter ihre Umsetzung in den Holzschnitt finden, weniger häufig in Aquarelle und Gemälde (z.B. Wietek Nr. 57) übertragen werden. In jedem Fall können sie von unglaublicher Nachhaltigkeit sein, so setzt Schmidt-Rottluff z.B. die 1910 entstandene Karte „Anlegestelle am Fluß“ (Wietek Nr. 25) erst 1956 in das gleichnamige Gemälde um!
Direkte künstlerische Adaptionen anderer Künstler sind selten und wo sie auftauchen, ereignen sie sich im Frühwerk: 1909 paraphrasiert S.-R. eine Bildskizze Cézannes (Wietek Nr. 15). Sehr für sich steht eine ägyptische Adaption der Nofret zwei Jahre später (Wietek Nr. 96).

In den Werken werden alle Schaffens- und Stilphasen Schmidt-Rottluffs seit dem epochemachenden heißen ersten echten Dangaster „Brücke“-Sommer 1909 ablesbar. Der „Brücke“-Stil dominiert. Knapp die Hälfte des Buches gilt der „Brücke“-Zeit, also den Jahren bis zur Auflösung der Künstlergruppe 1913.
Um 1914 scheint eine Orientierung hin zur Schwarz-weiß-Graphik einzusetzen, die durch die gedruckten „Aktions“-Postkarten Schmidt-Rottluffs auch weitere Verbreitung findet. Nach 1918 vermitteln die Blätter den Eindruck einer Orientierungsphase. Das Suchen in einer völlig veränderten Gesellschaft wird gerade bei ihnen ablesbar. Mit der „Sternenandacht“ (Wietek Nr. 116) klingt Motivisches der Zeichnungen der Else Lasker-Schüler an, allerdings unverkennbar Schmidt-Rottluffisch umgesetzt; in „Zwei aneinander geschmiegte(n) Köpfe(n)“ (Wietek Nr. 131) scheint eine Bildidee Brancusis auf, „Tier und Mensch“ (Wietek Nr. 111) variiert spielerisch Dadaistisches; ein „Kopf auf Sockel“ (Wietek Nr. 122) gemahnt an die Formverknappung kubistischer Porträtplastik, etwa eines William Wauer. Mit monumentalen Köpfen und Themen aus der Arbeitswelt findet S.-R. dann endgültig zum unverwechselbaren Stil der Nachkriegsjahre. Das Wägende der Übergangszeit von 1919/21 mündet in eine feste Form.

Ergiebig ist das Buch auch im Bereich der Rezeptionsforschung: Wer waren all jene mit Karten Bedachten? Natürlich die Sammler, die „Passiv-Mitglieder“ der „Brücke“, die begleitenden Kunstwissenschaftler und Museumsleute. Aber das Feld der Bedachten reicht weiter, entpuppt sich zudem als ein recht gemischtes. Da ist der Tischler und Designer Jack Goldschmidt, der sich im New Yorker Exil nach seinem Herkunftsort Oldenburg nannte, ebenso wie die Berliner Schülerin Ella Kohlstedt, die der Maler in der Dangaster Sommerfrische kennenlernte und der er Tipps zum Selberdrucken von Holzschnitten gibt. Da erscheinen die Hamburger Zahnärztin Elsa Hopf und ihre Gefährtin Clara Goldschmidt. Adressaten sind auch die künstlerischen Begleiter, Lyonel Feininger etwa oder Emma Ritter, und die jüngeren Kollegen, Franz Radziwill und das Ehepaar Robert W. Huth/Martel Schwichtenberg.
Gerhard Wietek hat ihnen allen nachgespürt, wie er auch den Orten große Aufmerksamkeit widmet, Rückzugsorten aus der Zivilisation allesamt, heißen sie nun Dangast, Nidden, Jershöft, deren Topographie akribisch genau recherchiert wird, wo sie ins Bild tritt. Die Frage, welcher Bildgegenstand gemeint ist, wird so ernst genommen, daß dafür Nachforschungen im heute polnischen Jershöft ebenso wichtig erscheinen wie Spekulationen über den Umbau des Friedenauer Rathausturms.
Dennoch sind die Namen mancher Adressaten heute nichts als Namen mehr: Wer etwa war jener Walter Hane, als Hamburger Versicherungsdirektor sicher eine stadtbekannte Persönlichkeit, dessen Spuren sich nach 1935 verlieren? Hier greift Kunstgeschichte in Zeitgeschichte, hier wird die Auslöschung des auch kulturtragenden jüdischen Bürgertums angeschnitten.
Andere Persönlichkeiten, wie das Sammler-Ehepaar Viktor und Hedda Peters in Leipzig, gewinnen für uns geradezu private Züge, wobei der familiär zu nennende Bezug Schmidt-Rottluffs zur Gesamtfamilie Peters allerdings eine Ausnahme bleibt. Ähnlich greifbar wird Nähe nur selten, etwa im Austausch mit Feiningers.
Gerhard Wietek sieht in den Karten auch eine Kompensation für ansonsten vernichtete Werkphasen des Künstlers. So z.B. gewinnt das sonst wenig gewichtete Jahr 1931 durch sie künstlerisch ein Gesicht.
1934 verstummen die Karten, wie das gesamte öffentliche Leben und die freie Meinungsäußerung, die sich in frei geäußerten Ansicht ausdrückt, überhaupt verstummten. Ein letztes nonfiguratives Werk greift der Künstler in der Postkarte noch einmal 1950 auf, fast so, als wolle er beweisen, daß auch eine völlig veränderte künstlerische Situation das Medium der gezeichneten Karte weiterhin trägt, ja benötigt. Da aber hatte Schmidt-Rottluff von seiner Kartenperiode eigentlich längst Abschied genommen.

Das Buch ist auch als hommage an Rosa Schapire zu verstehen, deren Bildnis als Frontispiz erscheint, und ein Kontinuum lebenslanger Wietekscher Bilddeutung offenbart sich in dem lapidaren und nicht besonders akzentuierten Zusatz auf Seite 230, daß Schmidt-Rottluffs Gemälde „Die Lesende“ von 1912 die Schapire darstellt. Gerhard Wietek hat diese Auffassung von Beginn an vertreten. In der ersten Retrospektive des Malers 1989 wurde die Dargestellte dann als Else Lasker-Schüler gesehen, wobei Gesichtsschnitt und Kopfform zur Identifikation beitragen sollten. Doch: Ein physiognomischer Befund dieses kubistisch-prismatischen Meisterwerks wird kaum zu führen sein, da dessen hoher Grad an idealisierender Gotisierung in kubistischer Form kein „Wiedererkennen“ zuläßt, gar nicht auf ein solches angelegt ist. Sollte aber der Grad der Nähe und Empathie bei der Entstehung eines Meisterwerks eine Rolle spielen, so wäre diese zu Rosa Schapire gegeben, bei Else Lasker-Schüler bliebe sie vorstellbar. Übrigens hätte dieses wohl bedeutendste Porträt aus Schmidt-Rottluffs kubistischer Phase 1957 für das Landesmuseum Oldenburg erworben werden können, als es darum ging, Spendenmittel, die als anerkennende Prämie für die Ausstellung „Dangast und die Maler der Brücke“ von Sponsoren bereitgestellt worden waren, einzusetzen. Leider war das Ankaufs-Gremium nicht von der Bedeutung des Bildes zu überzeugen und erwarb statt dessen landschaftsgebundene Motive der Oldenburger Zeit.

Schmidt-Rottluffs Grundsatzerklärung, sich generell nicht interpretierend zu seinem Werk zu äußern, hat sein Monograph Gerhard Wietek sich selbst lebenslang zur Maxime gemacht. „Ihm [Gerhard Wietek, d. Vf.] erscheint ein tatsächlicher Fortschritt objektiver kunsthistorischer Forschung nur dann denkbar, wenn der Primat des Kunstwerks nicht infrage gestellt und die Phantasie des Künstlers für wesentlicher gehalten wird als die des Interpreten.“ (Wietek S. 33.) Das Faktische bleibt der Gegenstand dieses Buches, wie es schon der Gegenstand der kurzen Mitteilungen auf den Karten gewesen war. Daß Karl Schmidt-Rottluffs Lebenssituation, ja sein künstlerisches Wollen, für den Leser dann doch und fast wäre man geneigt zu sagen trotzdem Gestalt annehmen, ist das bemerkenswerte Resultat dieser enormen Recherche.

Als 1919 eine gezeichnete Karte Franz Marcs als Frontispiz zum Roman „Der Malik“ der Else Lasker-Schüler erschien, war das vermutlich die erste Künstlerkarte des Expressionismus, die − noch dazu farbig − publiziert wurde. Welche Wertschätzung das Genre gewinnen sollte, kann selbst der „Prinz von Theben“ nicht geahnt haben. Diesen Siegeszug der gezeichneten Karte hat nun Gerhard Wietek mit seinem Kartenwerk Schmidt-Rottluffs in nicht mehr zu überbietender Weise dokumentiert.
Wenn er nach sechzigjähriger kunsthistorischer Arbeit und fast ebenso langer forschender und publizierender Beschäftigung mit der „Brücke“ sein wissenschaftliches Werk mit diesem großen Buch erklärtermaßen abschließt, bestätigt auch dieser Entschluß jene Konsequenz, die seinem Tun und Denken insgesamt zugrundeliegt.

16.09.2010
Jörg Deuter
Karl Schmidt-Rottluff. Künstlerpostkarten. Hrsg. v. Wietek, Gerhard. 2010. 528 S., 500 fb. und s/w Abb. 26 x 21 cm. Gb Wienand, Köln 2010. EUR 78,00
ISBN 978-3-86832-010-7
 
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