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Kunstwerke als Serie

Serienschaltung

Nach einer Idee von Ingeborg Quaas entstand in den Kunstsammlungen Jena eine Ausstellung zur legendären Ostberliner Prenzlauer Berg Kreativ-Szene der Jahre 1979 bis 1989 mit dem Titel „Poesie des Untergrunds“, die deren Geschichte anhand von Dokumenten und Artefakten vom 13. März bis 24. Mai 2010 erzählte. Zur Ausstellung erschien ein von Uwe Warnke und Ingeborg Quaas herausgegebener Katalog im Verbrecher Verlag. Zu sehen sind darin Selbsterzeugnisse wie Anthologien, Kataloge und Zeitschriften mit künstlerischem Anspruch, so etwa die Zeitschrift „Entweder/Oder“ oder „Mikado“. Künstlerpublikationen bilden ein eigenes Genre, das in den vergangenen Jahren, nicht zuletzt durch Ausstellungen und die Publikationen des Forschungsverbunds Künstlerpublikationen in Bremen, einem größeren Publikum bekannt wurde. Diese ephemeren und häufig auch kurzlebigen Objekte sind schwer zugänglich. Zum Glück gibt es Sammler. Im Fall der Ausstellung der Prenzlauer Berg Szene konnte man auf die Sammlung von Thomas Günther zugreifen. Ein anderer Fall spielt in den 1950er Jahren in Los Angeles. Dort war es Wallace Berman, in Opposition zum tradierten Kunsthändlersystem und zur Kunstszene an der Ostküste, zu verdanken, dass, inspiriert von Künstlerpublikationen der „Klassischen Moderne“, 1955 das alternative Magazin „Semina“ entstand, das bis 1964 erschien. Dieses und andere „subkulturelle“ Objekte wurden vom 8.11.2008 bis 1.3.2009 in der Ausstellung „Looking for Mushrooms“ im Kölner Museum Ludwig gezeigt. Diese Form künstlerischer Produktivität, eingeschränkt auf serielle Künstlerpublikationen, zu zeigen, verschrieben sich auch Victor Brand, Andrew Roth und Philip E. Aarons. Sie stellten sich aber einer weit größeren Aufgabe, da sie ihr Bezugsgebiet auf die Welt und den Zeitraum, beginnend mit 1955, bis auf die Gegenwart, ausweiteten. Zudem fragten sie nach der Bedeutung dieser Form künstlerischer Aktivität für den Verlauf von Künstlerkarrieren. Ihre Arbeitsergebnisse sind jetzt im englischsprachigen Katalog „In Numbers – Serial Publications by Artists since 1955“ zu besichtigen. Die tour d’horizon, beginnt mit der auch im Museum Ludwig gezeigten Publikation „Semina“. Mit einem Beitrag zur Künstlerpublikation „LTTR“ von 2010 wird die Tour, die einer alphabetischen, nach Titeln sortierten, Ordnung folgt, beendet.

Numerus clausus

Im Vorwort begründet Victor Brand, welche seriellen Publikationen Aufnahme fanden und weshalb manche ausgeschlossen werden mußten. Aufnahme fanden Publikationen, die von bildenden Künstlern, aber auch von Literaten gestaltetet und herausgegeben wurden und werden. Als erstes Kriterium wählten die Herausgeber die Erkennbarkeit eines künstlerischen Anspruchs. Die Künstler mussten zudem in die Gestaltung und / oder in die Organisation der Künstlerpublikationen eingebunden sein und diese als Teil ihrer gesamten künstlerischen Arbeit verstehen. Als Kriterien für das Produkt wurden die Beibehaltung einer gleichbleibenden Titelei und eine fortlaufende Datierung bzw. Nummerierung aufgestellt, so dass eine Serie erkennbar ist. Unabhängig vom Trägermaterial, gelten als Künstlerpublikationen sowohl Ephemera als auch Bücher, Zeitungen, Zeitschriften und Pamphlete, wobei Printprodukte überwiegen. Die Herausgeber geben für jedes ihrer Kriterien Beispiele. So fanden Raymond Pettibons Publikationen „Tripping Corpse“ Aufnahme, nicht jedoch Veröffentlichungen, denen er individuelle Titel gab. Ein weiterer Punkt, technisch-ökonomische Grundlagen der Herstellung, wird ausführlich erörtert. So eröffneten veränderte technische Rahmenbedingungen neue Möglichkeiten in Herstellung und Vertrieb. Eines war jedoch häufig zu knapp: Kapital und so erschienen viele Objekte nur kurz. An dieser Stelle hätte man sich eine Vertiefung ökonomischer Aspekte dieser Unternehmungen gewünscht, zumal die Herausgeber auf die neuesten Produktionstechniken, desktop publishing, verweisen und mit „on demand“ kann seit einigen Jahren die vordem hohe Kapitalbindung beim Auflagendruck gemindert werden. Ausgesondert wurden von den Herausgebern auch Publikationen, die ausschließlich für interne Kommunikationen unter Künstlerkollegen bestimmt waren. Aufgenommen wurden daher nur Publikationen, die ein interessiertes Publikum käuflich erwerben konnte.

Reihenbildung

Außerhalb des alphabetischen Modus platzierten die Herausgeber drei Publikationen, deren Titel aus Ziffern besteht: „0 to 9“ (Vito Acconci und Bernadette Mayer), „Zwölf Postkarten“ (Hans-Peter Feldmann) und „100 Boots“ (Eleanor Antin). In „In Numbers“ werden Umschläge bzw. Behältnisse der Publikationen und Teile aus ihrem Innenleben abgebildet. Dazu wird die Geschichte jeder Veröffentlichung, Gründung, Produktion, Vertrieb, Bedeutung und welche Personen und Gruppen beteiligt waren, dokumentiert. Alles Erschienene, gezeigt wird eine große stilistische Vielfalt, wird anschließend in einer illustrierten Bibliographie erfasst. Große Vielfalt herrscht auch zeitlich und örtlich. So war dem von Wolf Vostell herausgegebenen Magazin „Dé-Coll/Age“ (7 Ausgaben 1962-1969) nur ein kurzes Leben beschieden, andere, wie Ian Hamilton Finlays „Poor.Old.Tired.Horse.“ brachte es auf 25 Ausgaben. Räumlich spannt sich der Bogen von Fernost, Japan und Australien über Argentinien nach Kanada, Europa (Island, England, Schottland, Frankreich, die Niederlande, Deutschland, Italien) und den USA, die das größte Künstler- und Publikationskontingent, der insgesamt 55 präsentierten Publikationen, stellen. In eingestreuten Essays, die auf farbiges Papier gedruckt wurden, werden einzelne Aspekte ausführlich besprochen.

Sequenzen

In der Einleitung sprechen die Herausgeber Abgrenzungsprobleme, Zweifels- und Grenzfälle ebenso an, wie die Schwierigkeiten bei der Suche nach einer geeigneten Kategorie, auf die sie mit weiteren analytischen Anstrengungen antworteten. Reichlich räumliche Exkursionen unternahm, auf der Suche nach Material in Bibliotheken, Archiven und Ausstellungen, der Kritiker und Reporter Victor Brand auf seiner zweijährigen Recherchetour quer durch die USA und Europa. Ob Brand Veröffentlichungen des Forschungsverbunds Künstlerpublikationen bekannt sind, ist unbekannt, deren Kenntnis hätte ihm allerdings viel analytische Arbeit erspart, da mit dem zweiten Band der Schriftenreihe für Künstlerpublikationen „Artists‘ Publications – Ein Genre und seine Erschließung“ ein Grundlagenwerk vorliegt. So stellt Anne Mœglin-Delcroix in ihrem instruktiven Vortrag, der sich mit dem Verhältnis von Dokument und Werk befasst, heraus, dass Künstlerpublikationen, Flugblätter, Plakate, Postkarten, Multiples, Schallplatten, Künstlerbücher und Künstlerzeitschriften, niemals vom Gesamtprojekt, in dem sie eine Rolle spielen, „getrennt behandelt werden“ sollten. Eine etwas stärkere Kontextualisierung, so deutlichere Bezüge zu nicht-seriellen Künstlerpublikationen, Künstlerbüchern oder zum Gesamtwerk eines Künstlers hätten die Arbeitsergebnisse in „In Numbers“ besser abgerundet.

Mengenlehre

Ein wenig verwundert es zudem, dass, auf Deutschland bezogen, bereits gut Dokumentiertes, wie die Zeitschrift der Gruppe Spur nochmals vorgestellt wurde, andererseits aber heute eher unbekannte Printprodukte wie etwa die „Zeichenhefte für Literatur und Graphik“ nicht erwähnt werden. Auch fehlt die Aufnahme anderer serieller Arbeiten, die Brand auf seiner Tour hätten auffallen müssen. Dies ist bei Tomas Schmit der Fall, da dieser anfänglich zur Fluxus-Bewegung, deren Publikationen in „In Numbers“ dokumentiert sind, gehörte und mit seinen durchnummerierten Quagga-Heften alle Aufnahmekriterien erfüllt. Diese sind zudem, da in vier Katalogen gebündelt, leicht greifbar und der erste, da vergriffen, wurde 2009 vom Wiens Verlag und vom Verlag der Buchhandlung Walther König nachgedruckt. Auch relevant, aber in „In Numbers“ nicht enthalten, sind osteuropäische Serienkünstler. Auf ihre Anfertigungen, sei es „WOW“ (ein jugoslawisches Kunstmagazin, 1974-1980) oder „Commonpress“ (ein polnisches Kunstmagazin, 1977-1981), gleichwohl sie nicht frei zirkulierten und nur einem eingeschränkten, aber interessierten, Publikum zugänglich waren, sollte Brand zukünftig einen Blick werfen. Die von Brand noch zu entdeckenden Schätze versammelte Kornelia Röder in einem weiteren Band der „Schriftenreihe für Künstlerpublikationen“ mit dem Titel „Topologie und Funktionsweise des Netzwerks der Mail Art“, wobei der Beitrag osteuropäischer Künstler besonders hervorgehoben wird. Schnittmengen gibt es mit dem Warnke/Quaas-Katalog in der Sektion „Mail-Artisten am Prenzlauer Berg“ und mit „In Numbers“, so beim Magazin „Vile“.

Folgerichtigkeit

Als ausgesprochen ausdifferenziert und heterogen stellt sich behandelte Feld künstlerischer serieller Publikationen dar. Um hier einen Gesamteindruck herzustellen und die Objekte vor dem Vergessen zu bewahren, bedarf es vieler Anstrengungen. Sowohl in „In Numbers“ als auch in „Artists‘ Publications“, wird hervorgehoben, dass die internationalen Austauschbeziehungen der Künstler im Bereich Künstlerpublikationen nur durch internationale Kooperation der Forschungsstellen geklärt werden können. Anfänge sind gemacht und sie sind das Resultat großen Engagements. An „In Numbers“ bestechen vor allem der dokumentarische Charakter und die Präsentation des Bildmaterials, während die Stärken der „Schriftenreihe“ vor allem im analytischen Bereich liegen. Zum Schluss ruft, mit Nummer 126 aus Katalog 1, Tomas Schmit allen ein „ve/ry/nice“ zu.

Erwähnte Titel:
Sigrid Schade / Anne Thurmann-Jajes (Hrsg.) Artists‘ Publications. Ein Genre und seine Erschließung. Schriftenreihe für Künstlerpublikationen Band 2, kart., 300 S., 82 s/w und 123 fb. Abb., 23 cm x 16 cm. Salon Verlag, Köln 2008. ISBN: 3-89770-280-0. EUR 25,00

Kornelia Röder (2008) Topologie und Funktionsweise des Netzwerks der Mail Art. Seine spezifische Bedeutung für Osteuropa von 1960 bis 1989. Schriftenreihe für Künstlerpublikati-onen Band 5, kart., 304 S., 100 s/w und 16 fb. Abb., 23,5 cm x 16,5 cm. Köln. Salon Verlag. ISBN: 978-3-89770-280-6. EUR 20,00

Tomas Schmit (2009) Katalog 1. Werke 1962 bis 1978: Nr.1-208. kart., 160 S., 62 Abb., 15 cm x 21 cm. Berlin, Wiens Verlag. ISBN: 978-3-9811288-7-1; Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln 2009. ISBN: 978-3-86560-697-6. EUR 24,00

Uwe Warnke / Ingeborg Quaas (Hrsg.) (2009) Die Addition der Differenzen. Die Literaten- und Künstlerszene Ostberlins 1979 bis 1989. kart., 320 S., viele s/w Abb., 15 cm x 22 cm. Verbrecher Verlag, Berlin 2009. ISBN: 978-3-940426-43-7. EUR 19,90

23.08.2010
Sigrid Gaisreiter
In Numbers. Serial Publications by Artists Since 1955. Engl., Hrsg. Philip E. Aaron, Andrew Roth. Beitr.: Gil Blank, Victor Brand, Clive Phillpot. Nancy Princethal, Neville Wakefield, William S. Wilson. 440 S., 460 fb. u. 14 sw. Abb., Gb., JRP Ringier Kunstverlag, Zürich 2010. EUR 65,00, CHF 98,00
ISBN 978-3-03764-085-2
 
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