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Bildteppiche von Ernst Ludwig Kirchner und Lise Gujer

Lise Gujer hat den Expressionismus dauerhaft und glaubhaft ins Kunstgewerbe überführt, ohne dass er „kunstgewerblich“ wurde. Mit ihren Umsetzungen der Bildideen Ernst Ludwig Kirchners auf einem zweischäftigen Flachwebstuhl sind ihr Bildteppiche gelungen, die Kirchners Zeichnungen kongenial in ein anderes Medium überführten und dennoch unverkennbar ihr Werk wurden, Arbeiten einer Frau, die lange Zeit im Abseits stand. 1974 haben Hans Dürst und Eberhard W. Kornfeld ihr Werkverzeichnis erarbeitet. Danach wurde es still um sie. 1999 gab es eine Ausstellung in Davos, nun legt die Bündner Kunstsammlung einen Werkkatalog der Kirchner-Entwürfe ihrer Bildteppiche vor, die nach jahrelanger Restaurierung hier erstmals präsentiert werden. Hierbei sind zwei Werkphasen zu unterscheiden: Bis zum Tode Kirchners und darüber hinaus arbeitete Lise Gujer strenger nach Kirchners Vorlagen und eng mit diesem zusammen. Seit 1947 fand sie dann – verstärkt seit 1956 − zu „Übertragungen“ freierer Art, wie Kirchner sie sie gelehrt hatte, wurde vor allem in der farblichen Adaption freier und womöglich auch eigenständiger.

Die Vorzeichnungen Kirchners hatte Lisa Gujer kurz vor ihrem Tod notariell versiegeln und für dreißig Jahre deponieren lassen, wohl vor allem, um eine kopierende Nachahmung ihrer Arbeitsweise zu verhindern. Erst jetzt werden sie komplett ediert. Fast ebenso interessant wie Kirchners Vorzeichnungen, für die Umsetzung naturgemäß aussagekräftiger sind Gujers eigene Werkskizzen, die sie zur Realisierung anfertigte und die den technischen Notwendigkeiten Rechnung tragen. Dabei musste sie berücksichtigen, daß über eine Breite von ca. 80 cm hinausgehende Bahnen sich mit ihrem Webstuhl nicht herstellen ließen, sie also oftmals in mehreren Segmenten arbeiten musste.

Nach Kirchners Tod wurde ihr Haus, die „Gruoba“ in Davos-Sertig, so etwas wie eine Gedenkstätte für Ernst Ludwig Kirchner, da sie dessen handgeschnitzte Ausstattungsstücke und Möbel aus Kirchners Haus auf dem Wildboden aufnahm, darunter den legendären Stuhl aus Arvenholz und zu einer Tür umgewidmete Monumentalschnitzereien. Heute gehört die „Gruoba“ dem seinerseits bereits längst zu einer kunsthistorischen persona grata gewordenen Baseler Galeristen und Sammler Eberhard W. Kornfeld, der selbst einen Beitrag über die Weberin Lise Gujer zum Buch beigetragen hat. Beat Stutzer, Direktor des Bündner Kunstmuseums, beschreibt die Arbeiten der Gujer als „eine neue Art zu malen“, als kolossale Stickereien, bei denen die Photographie eine neue und so bis dahin kaum dagewesene Rolle als Vermittlerin spielt. Mechthild Flury-Lemberg charakterisiert das Wirken der Weberin von der technischen Seite her, Kristina Liedtke berichtet von den Schwierigkeiten bei der restauratorischen Sicherung der stark gealterten und rissigen Pergamentblätter. Der Werkkatalog aller erhaltenen Kirchner-Vorzeichnungen aus dem Besitz Gujers schließt das Buch ab. Für die Webteppiche gilt: Lise Gujer tritt damit gleichberechtigt neben Ernst Ludwig Kirchner.

Nun, ihre Wirkung war nicht immer so. Ein ungedruckter Briefwechsel sei dazu abschließend herangezogen. Als der Kunsthistoriker Gerhard Wietek 1958 ein Insel-Bändchen über die Webereien der Lise Gujer nach Kirchners Vorlagen plante, winkte der Verlag dankend ab. Es sei nicht mit dem nötigen Publikumsinteresse dafür zu rechnen. In der gerechten Sicherheit, dass ihre Zeit noch nicht gekommen sei, aber eines Tages kommen werde, schrieb die Gujer: „Es tut mir sehr leid, […] dass wir diese Enttäuschung vom Insel-Verlag erlebten. […] Ich denke mit der ständigen-steigenden Wertschätzung von E.L. Kirchner werden auch in absehbarer Zeit die Webereien nach seinen Entwürfen erwünscht sein.“ (Schreiben vom 15. Januar 1959 in Privatbesitz.) Dem ist nichts hinzuzufügen.

02.08.2010
Jörg Deuter
Bildteppiche von Ernst Ludwig Kirchner und Lise Gujer. Werkkatalog der Entwürfe. Beitr. v. Flury-Lemberg, Mechthild /Kornfeld, Eberhard W /Liedtke, Kristina /Stutzer, Beat. Hrsg. v. Stutzer, Beat. 144 S., 140 fb. u. sw. Abb. 26,5 x 20 cm. Gb Scheidegger & Spiess, Zürich 2009. EUR 39,00, CHF 59,00
ISBN 3-85881-252-8   [Scheidegger & Spiess]
 
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