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annus mirabilis 1989

Zwanzig Jahre Mauerfall – Grund, im Jahre 2009 zu dieser Thematik zahlreiche Bücher zu publizieren und mit verschiedenen Veranstaltungen wie beispielsweise die Jubiläumsfeier am Brandenburger Tor oder auch das Lichterfest in Leipzig an die Ereignisse vom Oktober und November 1989 zu erinnern. Es nimmt nicht wunder, dass auch Museen in diversen Sonderausstellungen das historische Ereignis des „annus mirabilis 1989“ thematisieren. So auch die Kunsthalle Wien und die Villa Schöningen an der Glienicker Brücke in Potsdam, der „Nahtstelle zwischen Ost und West“, in deren Ausstellungen Werke von Künstlerinnen und Künstler aus zwanzig Nationen gezeigt werden, die in einem Katalog vereint sind. In „1989. Ende der Geschichte oder Beginn der Zukunft?“ geht es nicht um eine sozialhistorische oder mentalitätsgeschichtliche Einordnung der letzten zwanzig Jahre, sondern es werden Anmutungen, Gefühle und Atmosphären aufgearbeitet, die mit dem politischen Umbruch und Verfall eines Systems verbunden sind. Einen Einstieg in die Empfindungen, die durch den Mauerfall und dessen Nachwirkungen hervorgerufen wurden, bieten die eigens für den Ausstellungskatalog geführten Interviews mit den Künstlern Emilia Kabakov, Neo Rauch und Barbara Kruger, die den 9. November 1989 diesseits und jenseits der Mauer bzw. des Eisernen Vorhangs erlebten.

Zusätzlich bereichert wird der Katalog mit Beiträgen dreier Autoren, in denen u.a. der Germanist und Kulturwissenschaftler Helmut Lethen von seinen Erinnerungen von jener ereignisreichen Nacht berichtet, die er zu seinem Bedauern auf der „Bettkante des Hotels Essex in San Francisco“ verbrachte. Kulturjournalist und Kurator an der Kunsthalle Wien Thomas Mießgang thematisiert beeindruckend die Herausbildung und das Verschwinden des im Nachhinein eher lächerlich anmutenden Personenkults kommunistischer Führer, insbesondere den des ehemaligen rumänischen Staatspräsidenten Nicolae Ceauşescus.

Den Essays folgt der in zehn Themenbereiche gegliederte Katalogteil mit 35 Kunstwerken beider Ausstellungsorte, wie Bürokratie, Verrat, Überwachung, Nostalgie, Gewalt, Manipulation, Ironie besser. Dieser Gliederung folgt die Präsentation der Kunstwerke allerdings nicht en bloc. Die künstlerische Auseinandersetzung mit den Geschehnissen um und nach 1989, die nicht nur auf Deutschland fokussiert sind, gestalteten die Kunstschaffenden auf unterschiedlichste Art und Weise. Sie nehmen den Betrachter mit auf die Reise in ihre Gedanken- und Ideenwelt in Form von Videodarstellungen, Performancedarbietungen, Gemälden, Installationen, Fotografien u.a.m. Der jeweilige Beitext stellt die Künstler kurz vor und erläutert das jeweilige Objekt.

Der bildlichen Wiedergabe einer Videodarstellung oder eines dreidimensionalen Kunstwerkes wie einer Installation sind natürlich gewisse Grenzen gesetzt. Die Emotionen, die bei der Betrachtung der Abbildung des 160 m2 umfassenden Kunstwerkes „Das große Archiv“ von Ilya & Emilia Kabakov unter dem Themenbereich „Diktatur des Plans“ hervorgerufen werden, potenzieren sich mit Sicherheit beim Durchschreiten dieser klaustrophob anmutenden Räume. Auf eine Art Zeitreise entführt Sophie Calle, die in der Rubrik „Taumel der Zeichen“ mit ihrer Installation „Die Entfernung“ der Umgestaltung des Stadtbildes Ost-Berlins nachspürt, die sich u.a. in der Entfernung von kommunistischen Sinnbildern manifestieren und so gewisse Leerstellen evozieren, dem Betrachter aber auch vor Augen führt, wie schnell das Vergessen oder gar Verdrängen einsetzt. Wo einst Symbole des planwirtschaftlichen Systems hingen, befinden sich heute diejenigen der Marktwirtschaft – bunte Reklametafeln zieren das Stadtbild. Unter der Thematik „Ikonografie des Konsums“ übt Martin Parr mit „Luxury RUSSIA“ Kritik an den Entgleisungen der an Konsum orientierten und nach Statussymbolen heischenden Gesellschaft, die zum Teil eher grotesk als edel anmuten.

Dem Hauptkatalogteil folgen anschließend schwarz auf rosa gedruckte Exzerpte verschiedener Autoren, die bereits an anderer Stelle über Ereignisse um 1989, deren Vor- und Nachwirkungen, ob in Deutschland, Polen, Russland oder China, reflektierten.
Ebenfalls etwas Raum wird einigen Politikern eingeräumt, deren mittlerweile berühmt gewordene Äußerungen zu der Berliner Mauer und ihrem Fall. Nach einem kurzen biografischen Überblick der Autoren und Autorinnen der Exzerpte sowie einer Liste zu den ausgestellten Kunstwerken, bilden Ausschnitte des Filmes „The Invisible Frame“ von Cynthia Beatt den Abschluss des Katalogs. 1988 unternahm die Regisseurin Beatt zusammen mit der Schauspielerin Tilda Swinton eine 160 km-lange Radtour entlang der Berliner Mauer, die sie 21 Jahre später noch einmal versuchten aufzuspüren.
Der Ausstellungskatalog ist inhaltlich und wegen seines Designs ein gelungenes (Kunst-)Werk, das Spielraum für eigene Interpretationen lässt und zum Nachdenken und Erinnern anregt.

15.03.2010





Ute Terletzki
Matt, Gerald /Miessgang, Thomas: 1989. Ende der Geschichte oder Beginn der Zukunft? Anmerkungen zum Epochenbruch. Kabakov, Ilya & Emilia /Kruger, Barbara /Rauch, Neo /Hrsg. v. Gerald Matt, Kunsthalle Wien. 300 S. 23 x 18 cm. Pb Verlag für moderne Kunst, Nürnberg 2009. EUR 32,00
ISBN 978-3-941185-78-4
 
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