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Paul Wegener - Frühe Moderne im Film

Die Filmarbeiten des Max Reinhardt-Schauspielers (seit 1906 am Deutschen Theater Berlin) mit dem ausdrucksstarken Gesicht und dem voluminös wirkenden Körper begannen 1913 mit der Doppelgänger-Geschichte "Der Student von Prag". Wegeners Vorliebe lag in der Phantastik und im Märchen; er war vor allem Erzähler orientalischer und jüdischer Mythen, als "Golem" ist er wohl am nachhaltigsten in die Filmgeschichte eingegangen. Bis zu Beginn der zwanziger Jahre schrieb und drehte er seine wichtigsten Filme - ein Autorenfilmer der ersten Stunde - u.a. mit Stellan Rye, Henrik Galeen, dem Bühnenbildner Rochus Gliese und den Kamerapionieren Guido Seeber und Walter Ruttmann.
Der Architekt Hans Poelzig hatte für den erhaltenen maßgeblichen Golem-Film "Der Golem, wie er in die Welt kam" (1920) auf dem Tempelhofer Ufa-Studiogelände keinen Nachbau eines mittelalterlichen Prag unternommen, in der die jüdische Legende im Stetl spielen sollte, sondern eine visionäre Golemwelt unheimlich "mauschelnder" Bauten kreiert. Mit der Rabitz-Lehm-Technik formte Poelzig Fassaden und Türen, Erker und Türme von lebendiger Beredsamkeit, seine Höhlen und Türme, Treppen und Aufgänge bildeten eine Verbindung aus deutscher Romantik und expressionistischer Baukunst, die Wegeners Vision vom phantastischen Kino entgegen kam. Seine Filme zwischen 1913 und 1923 haben - der vorliegende Band macht es anschaulich - die Neoromantik, eine gebündelte Vormodernität in die moderne Formenwelt überführt. "Die Filmtechnik macht sichtbar, was romantische Phantasie vorgedacht hat" (S. 76). Wegener war begeistert vom Exotismus der frühen Moderne; in seinem "Landhaus in der Stadt" in Berlin-Wilmersdorf, Binger Straße, versammelte er asiatische Götterfiguren um sich wie in einem Tempel.
Bereits 1992 hat Heide Schönemann einen abbildungsstarken Band "Fritz Lang. Filmbilder. Vorbilder" publiziert, der den kunsthistorischen, motivgeschichtlichen Grundlagen für die Bildideen des Filmregisseurs nachspürte. Die Autorin, an den Grenzbereichen zwischen Literatur, Kunstgeschichte und -Film tätig, integrierte also nachträglich die Gestaltung der Filmbilder in den zeitgenössischen Fundus aus Bildungseinflüssen und künstlerischen Inspirationen des Regisseurs. Sie trägt Filmbilder in die Landkarte vorgängiger Bilder ein. Dieses Verfahren greift auch bei "Paul Wegener - Frühe Moderne im Film": Analogien, die bestimmte Herkünfte augenfällig machen, lassen sich angesichts der präzis aufeinander abgestimmten Bildillustrationen der meisten Seiten eines jeden Kapitels direkt erfassen. Zur Architektur der frühen Moderne im "Golem" etwa sind Otto Bartnings Sternkirchenentwurf mit einer Krypta Antoni Gaudis, einer Skizze Erich Mendelsohns, einem Wasserturm Poelzigs und einer Grabmalarchitektur Max Tauts zusammengebracht und als Parallelerscheinungen, die sichtlich Einfluß ausgeübt haben. Deutlich treten die expressive Sternform, die parabolischen Gewölbe, die Spitzbogenreihung im "Golem" hervor. Biomorphe Weltsichten, die Spirale aus den Zeichen Kreis und Pfeil und vor allem die Neuinterpretationen der Gotik, die dem Szenenbild des "Golem" innewohnen, sind aufwendig mit zahlreichen Fotografien aus der Filmkopie, Illustrationen Alfred Kubins sowie Abbildungen von Bernhard Hoetgers Worpsweder Wohnhaus verdichtet. Auch Bühnenbilder des Deutschen Theaters und bestimmte Inszenierungen (etwa Max Reinhardts "Hamlet" von 1909) hatten Vorbildcharakter für "Golem"- Szenen.
"Der Kopf verfolgt mich" soll Ernst Barlach 1930 nach der Arbeit am Porträt Paul Wegeners gesagt haben. Wegener brachte mit seinem wuchtigen, erdgebundenen Körper eine massive Präsenz ins Spiel, ein breitflächiges Gesicht mit hohen Backenknochen - ein Typ, der sich plötzlich und eklatant durchsetzte, so Schönemann unter dem Titel "Die neue Hässlichkeit". Er war der Tyrann aus dem italienischen Trecento in "Herzog Ferrantes Ende", der "Rübezahl" (hier zeigt das Buch Bildvergleiche mit Gemälden Moritz von Schwindts, Carl Blechens "Felslandschaft mit Mönch" sowie Schinkels "Felsentor"), der "Rattenfänger" und der Bauer "Hans Trutz im Schlaraffenland" (zu dem Motive aus Matthias Grünewalds Isenheimer Altar - "Versuchung des heiligen Antonius" -‚ und überhaupt die deutsche und niederländische Kunst des frühen 16. Jahrhunderts in Beziehung gesetzt sind). Wegener war der "Yoghi", der "fremde Fürst" in der Ideologie des edlen Wilden - und mit der Verkörperung des "Golem"-Mythos ein Knecht, der sich befreit, Prototyp eines Roboters, der eine Seele ausbildet. Wegener hat sich offenbar nicht gescheut, Kunstwerke wie Pieter Brueghels d.Ä. "Schlaraffenland" als Szenenanweisungen zu nutzen, für seine Balzacverfilmung "Der Galeerensträfling" nimmt er Bezug auf Michelangelos Fresko "Das jüngste Gericht", um die Szenenatmosphäre im Galeerenbauch zu kennzeichnen. Unter freiem Himmel fanden die Dreharbeiten vieler Wegenerfilme statt, seine Märchenfilme sind ein Hymnus des frühen Kinos auf die Natur, oft begleitet von Auftritten des "Hellerauer Kinderreigens" der musischen Reformschule Hellerau bei Dresden, auch kombiniert mit Lotte Reinigers Silhouettenbildern (die auch in Fritz Langs "Nibelungen"-Film eine bedeutende Rolle spielen sollten).
Die Qualität von Heide Schönemanns Wegener-Buch liegt vor allem in der Komposition der Bildmotive, so dass man die Bewegungsbildmotive mit ihren bildnerischen Vorlagen zusammendenken kann; darüber hinaus dokumentiert es eine flimhistorische Entdeckung: "Lebende Buddhas" (1923 zuzeiten der Inflation produziert), mit dem Paul Wegener aufgrund des finanziellen Flops dieses Films seine Filmautorenschaft beschloss. Nur kurze Fragmente jenes Exotik-Abenteuerfilms mit ungewöhnlichem Sinn für die fremde Religiosität haben überlebt, und nun kann der Betrachter anhand erstmals veröffentlichter Photos aus dem Wegener-Nachlass, zu dem Schönemann Zugang hatte ‚ dem Verlauf der Handlung entlang der Bildreihe folgen (S. 103-127). Eine europäische Expedition nach Zentralasien trifft dort auf den Großlama, die Verkörperung Buddhas (Paul Wegener), der jenen auf magische Weise nach London folgt und zeitweilig in einem Tempelbild verschwindet, von wo aus er die Szene beherrscht.
Jörg Becker
Schönemann, Heide: Paul Wegener - Frühe Moderne im Film /Early Modernism in Film. 128 S., 220 Abb. 29 cm. Ln Edition Axel Menges, 2000. EUR 52,-
ISBN 3-932565-14-2
 
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