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Frank Kunerts neues Fotobuch „Carpe Diem“

Architekturidyllen mit Knacks

Thomas Demand, Oliver Boberg, Christine Erhard oder Thomas Wrede: Viele Fotokünstler haben schon in den neunziger Jahren Architekturmodelle gebaut und anschließend fotografiert. Frank Kunert ist ebenfalls ein Fotograf „Kleiner Welten“ – er folgt dieser fotokünstlerischen Spur, wie er schon in verschiedenen Fotobüchern und mit vielen Ausstellungen gezeigt hat. Alles dreht sich hier um die Idee des Illusionismus: Man soll denken, das Ganze sei echt. Zumindest ein paar Sekunden lang.
Wenn sich dann Zweifel einstellen, dann wird es erst recht interessant: Was ist denn hier los, fragt man sich beim Betrachten der Bilder des 1963 geborenen Frankfurters. Und dann ahnt man: dieser Schmutz an den Wänden, diese ganzen Details! Alles Fake! Alles Betrug! Dieses Zimmer mit Aussicht – das kann es ja gar nicht geben. Oder doch? Bei manchen der mit analoger Großformatkamera fotografierten Motiven grübelt man: Könnte so etwas vielleicht doch möglich sein?
Die beiden einander fast liebevoll zugewandten Beobachtungstürme, die Treppe zu einem Hauseingang ohne Haus, die nach oben verrutschten Möbel in „Tiefschlaf“, die Esszimmer-Idylle auf brüchigem Eis, das Hochbett, das in den Himmel blickt, die Jägerstube mit dem Hochsitz im Gastraum, der „Tisch für zwei“, der aus einem Fenster hinaus ragt, eine Hausfassade mit Sprungbrett – all das ist von liebenswerter Skurrilität.
„Meine Arbeit“, sagt Kunert, „wird von Themen bestimmt, die mit den Gefahren des Lebens und all seinen Höhen und Tiefen zu tun haben … Bildelemente wie Leitern, Treppen oder Sprungbretter helfen mir dabei, das menschliche Streben nach Größerem, Höherem, dem Überwinden von Grenzen und die gleichzeitige Angst vor Kontrollverlust und Ungewissheit zu symbolisieren.“
Es sind surreale Architekturbilder, die Kunert schafft, doch fehlt manchen seiner Modellfotografien auch ein wenig die suggestive Kraft. Manches mutet an, als hätten Surrealisten spleenige Bauwerke für eine Modelleisenbahn geschaffen. Was diesen Bildern ein wenig fehlt, ist ihre aktuelle Brisanz.
Thomas Demand etwa machte die deutsche Geschichte zum Ausgangspunkt seiner künstlerischen Forschungsarbeit macht. „Öffentliche Bilder“ der Deutschen stellt er nach, konstruiert aus Pappe und Papier etwa ein Stasibüro, das Archiv von Leni Riefenstahl, Robert Lembkes Ratestudio, das Badezimmer des toten Uwe Barschel oder gar das Führerhauptquartier auf der Wolfschanze neu.
Solche Werke schafft Kunert nicht, sondern Architekturidyllen mit einem kleinen Knacks. Er ist ein Meister minutiöser Handarbeit, der die Abgründe des Lebens mit Leichtigkeit, Witz und Komik zu inszenieren versteht. Die Architektur spielt oft eine wichtige Rolle dabei: eine in die Jahre gekommene, bröckelnde Architektur zumeist, auf der sich Schmutz und Staub abgelagert haben. Und der Titel? Carpe Diem. Auch er klingt etwas angestaubt. Wir sollten uns angesichts der vielen Katastrophen Gutes tun, sagt Kunert. Und ja: Es macht Freude, in diesem schmalen Fotoband zu blättern.

04.05.2023
Marc Peschke
Frank Kunert. Carpe Diem. Beitr.: Lindhorst, Peter; von Máriássy, Eva-Maria. 80 S. 40 Abb. 22,5 x 22,5 cm. Englisch; Deutsch. Hatje Cantz Verlag, Berlin 2022. EUR 20,00. CHF 23,00
ISBN 978-3-7757-5291-6
 
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