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Ute & Werner Mahler: Lissabon 1987/88.

Das Innere einer Stadt

Es ist nur wenige Dekaden her, als Ute und Werner Mahler – damals in der DDR bekannte Fotografen – zusammen mit dem Autor Wolfgang Kil zwei Reisen nach Lissabon unternahmen, um die Stadt für ein Buchprojekt zu fotografieren. Doch wie hat sich die Metropole seit 1987 verändert! Auch darüber kann man nun beim Betrachten eines schmalen Bändchens staunen, dass in seiner Machart (Design: Florian Lamm) etwas sehr Besonderes ist.
Schon 1989 sollte das Buch erscheinen, doch nach der Wiedervereinigung wurde das Projekt nicht mehr realisiert – oder anders: Es interessierte sich einige Jahre keiner mehr für die besten Bildautoren der DDR. Bis 2021 verschwanden die Bilder in einem Brandenburger Archiv. Wie gut, sie jetzt wieder zu sehen, Schwarzweißfotografien, die vor allem auf den Straßen Lissabons entstanden sind, ergänzt um den Originaltext von Wolfgang Kil und einen neuen Text, der von den Schwierigkeiten der Realisierung des Buchs berichtet.
Das kleine Format mit seinen vielen dünnen Seiten zieht sofort in Bann – wie die Fotografien von Ute und Werner Mahler, die hier erstmals zusammengearbeitet haben. Nach der Wende, im Jahr 1990, war Ute Mahler gemeinsam mit ihrem Mann eine der Gründerinnen der in Berlin ansässigen Fotografenagentur Ostkreuz. 2004 folgte die Gründung der „Ostkreuzschule für Fotografie und Gestaltung“. Auch hatte Ute Mahler einen Lehrauftrag an der Kunsthochschule Burg Giebichenstein in Halle inne. Seit 2000 ist sie Professorin für Fotografie an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg. Das Paar ist dem Osten treu geblieben und lebt heute in Oranienburg-Lehnitz in Brandenburg.
Der Architekt, Architekturkritiker und Publizist Wolfgang Kil hat bereits im Jahr 1984 erkannt, dass Ute Mahlers Interesse jenen Situationen gilt, die „unbestimmt und offen“ sind: „In ihren Bildern ist das Sichtbare nur eine dünne Hülle, die sich sofort wieder verflüchtigt sobald das Interesse am Eigentlichen geweckt ist – am Unsichtbaren, für das selbst unsere Sprache nur unsicher tastende Begriffe kennt, vielleicht Trauer und Freude, Liebe und Einsamkeit, Leere und Übermut, wie häufig auch von alldem etwas.“
Und so ist auch dieses Buch ein hervorragendes Beispiel für jenen subjektiven Ansatz der Dokumentarfotografie, den Ute und Werner Mahler pflegen. Die Veränderungen der Stadt Lissabon, ihr Weg ins 21. Jahrhundert, begann genau in dieser Zeit: Immer weiter fraß sie sich ins Land. Immer mehr uferten die Neubaugebiete aus. Die Bodenspekulation trieb ihre schlimmsten Blüten. Die Mahlers fotografierten auch dort, in den Sattelitenstädten, Armenvierteln und Brettersiedlungen, aber vor allem in den damals noch enorm heruntergekommenen Altstadtquartieren – die heute, modernisiert und gentrifiziert, Wochenend-Airbnb-Touristen aus ganz Europa en masse anlocken.
Hier fanden die Mahlers die Menschen in ihrer Umwelt, die sie so sehr interessierten. Auch die tadellos gekleideten Angestellten, wie Kil feststellt. „War es südländisch-männliche Eitelkeit, die noch vom Hilfsreferenten die Erscheinung eines Abteilungsleiters erforderte?“ Es war damals schon, schreibt Kil, ein „Land im Gründerfieber“, gerade ein Jahr nach der Aufnahme Portugals in die EU. Internationale Banken und Investoren fingen an, sich in den großen Avenidas Büros zu sichern – der Renovierungsboom begann und damit auch der Abriss vieler Wohnquartiere am Rande der Innenstadt. Dazu kam schließlich noch die Katastrophe des Jahres 1988: der Großbrand im Altstadtviertel Chiado.
Was die jungen DDR-Fotografen damals vermissten, das war der, nochmal Kil, „schöne Schmalz von der portugiesischen Traurigkeit“, der noch heute von vielen Besuchern und Besucherinnen in dem Land am Meer, ganz im Südwesten Europas gesucht wird. Und doch spürt man in diesen Bildern immer noch: Die Geschichte Lissabons, so schreibt der portugiesische Literatur-Nobelpreisträger José Saramango, steckt in den „Winkeln, Dachziegeln und Gerüchen jeder Straße“.
So durchstreiften die Gerade-noch-DDR-Bürger die Stadt, auf der Suche nach dem wahren, dem echten Portugal. Denn das zu finden war der Auftrag des Verlages. Doch was sie hier vorherahnten, das war die nahe Zukunft ihres eigenen Landes: „So ungefähr sähe es wahrscheinlich aus, wenn auch unser kleines (und hier gänzlich unbekanntes) Land DDR eines Morgens unter der begehrlichen Obhut der reichen Gesamteuropäer aufwachen würde. Ein grenzenloses Nachholbedürfnis bräche sich Bahn wie hier, wo neben das Pathos einer nostalgisch verklärten Vergangenheit plötzlich die Fetische einer hochtechnisierten Zivilisation traten …“
Doch beim Durchblättern des Bandes sehen wir auf vielen Seiten immer noch ein anderes Portugal, das wenige Jahre später auch Wim Wenders in „Lisbon Story“ noch einmal findet: Es ist das Portugal der kleinen Leute, der Armen, der Arbeiter und Angestellten, der verlotterten Ginja-Bars etwa auf dem Hügel zwischen der Avenida da Liberdade und der Rua da Palma, im Sant` Ana-Viertel. Der Nationaldichter Luís Vaz de Camões starb in Sant` Ana bettelarm an der Pest – erst nach seinem Tod erlangte er mit seinem 1572 erschienenen Versepos „Os Lusíadas“ Weltruhm: einer monumentalen Geschichte Portugals in 8816 Versen.
Hier, in Vierteln wie diesen, vor allem auch in der labyrinthischen Alfama, machen die beiden ihre Fotos und zeigen uns kurz vor dem Ende dieser Epoche, das arme, rückständige, einfache Portugal. Das Portugal der „caldo verde“ und des „bacalhau“, der verblichenen revolutionären Graffitis an den Häuserwänden. Die Nelkenrevolution, sie war damals gerade erst 13 Jahre her. Die Kinder in den Altstadtgassen, die Blumenverkäuferinnen, die Schnapstrinker in den Bars, die Zeitungsleser an den Ecken, die Losverkäufer, die Fischer und Fischverkäuferinnen, die Verliebten am Tejo, die diskutierenden älteren Herren auf der Straße, die Bauarbeiter und Müllsammler, die alten Frauen beim Fischeinkauf, die zwei Männer vor dem Padrão dos Descobrimentos, dem Denkmal der Entdeckungen in Belém am Tejo, errichtet noch durch das Salazar-Regime.
Der Blick der Portugiesen war seit jeher auf das Meer, auf die Weite gerichtet, früher, im Zeitalter der Entdeckungen. „Lissabon 1987/88“ aber richtet seinen Blick auf das Innere einer Stadt am Anfang eines enormen Transformationsprozesses, die heute so nicht mehr existiert. Schließlich ein Arbeiter mit Schiebermütze auf einer Hafenfähre. Er blickt, auf dem Weg vom Cais do Sodre ans andere Ufer, vielleicht in eine Fabrik in Barreiro, das in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einem der größten Industriezentren Europas wurde, versonnen auf seine Stadt. In Lissabon, so mutete das damals an, so dachten sicher auch Ute und Werner Mahler, sah fast jeder aus, wie ein Dichter oder Philosoph.

16.03.2023
Marc Peschke
Lissabon 87/88. Mahler, Ute; Mahler, Werner. EinfĂĽhrung von Kil, Wolfgang. 192 S. 21,2 x 16 cm. Hartmann Projects Verlag, Stuttgart 2023. EUR 28,00.
ISBN 978-3-96070-095-1
 
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