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Georg Aerni – Silent Transition.

Geheimnisse und MerkwĂĽrdigkeiten

Der Weg von der Architektur zur Fotografie war für Georg Aerni ein selbstverständlicher. Zumindest liest sich so seine Biografie: Nach dem Studium der Architektur an der ETH Zürich arbeitete er zunächst als Architekt und wendete sich dann, seit einem Aufenthalt in Paris zwischen 1992 und 1994, der Fotografie zu. Schon 1996 stellte er im Musée Carnavalet in Paris aus – „Panoramas parisiens“ hieß die Schau. Auch in Barcelona, Apulien oder Kairo fotografierte er – lange Jahre zeigte die Galerie Bob Gysin sein Werk.
Es sind vor allem die städtischen Strukturen, die den in Zürich lebenden Fotografen beschäftigten, auch Megacities wie Shanghai oder Hongkong. Hier gelingen ihm ungesehene Bilder auf einem seit den 1990er Jahren oft fotografiertem Terrain. Die Brüche der Architektur unserer Zivilisation, Architekturdetails zeigt er auf unspektakuläre Weise. Warum diese Bilder, diese Architekturkompositionen so besonders sind, ist nicht einfach zu beschreiben. Doch klar ist: Hier macht jemand mit der Fachkamera sehr besondere Bilder, deren vordergründige Sachlichkeit voller Geheimnisse und Merkwürdigkeiten zu stecken scheint.
Nun ist bei Scheidegger & Spiess Aernis neues Fotobuch „Silent Transition“ erschienen, das ein wenig mehr als früher auf die Schnittstellen zwischen Kultur und Natur fokussiert. Wir sehen schlichte Bilder, die im Gedächtnis bleiben: eine Landschaft aus Gewächshäusern in Südspanien, Wohnquartiere in Kairo, urbaner Wildwuchs, im Bau befindliche Gebäude, Steinbrüche, Kiesgruben, Bilder architektonischer Ruinen, Bilder des Zerfalls, stille Transformation. Die Ruine, neu oder alt, scheint Aernis liebste Architektur zu sein, zerfallende Bauwerke, stehengebliebene Überreste, „gegenwärtige Form eines vergangenen Lebens“, wie der Philosoph und Soziologe Georg Simmel 1907 schreibt.
Das Ruinöse, Improvisierte oder auch Nutzlose interessiert Aerni. Karge, erodierte Felswände, ein knorriger Baum, angeschwemmtes Gehölz am Ufer des Flusses Maggia im Tessin, Kletterpflanzen zwischen Hochhäusern und Autobahnen, Bäume mit eingewachsenen Drähten. Und oft gelingt ihm etwas, was schwer zu erklären ist: Man staunt über diese Bilder. Vielleicht, weil er sie so gut baut, so vollendet komponiert.
Natürlich erzählen diese Bilder auch von gesellschaftlichen Hintergründen, von wachsenden oder schrumpfenden Städten, von sozialen Dingen, von Folgen der Klimaerwärmung, von der landwirtschaftlichen Massenproduktion. Doch das ist nur der Hintergrundsound dieser Fotografien, deren Banalität aufregend surreal wirkt. Er sei von Objekten angezogen, die „eine gewisse Rätselhaftigkeit beinhalten, weil zum Beispiel ihre Funktion nicht klar ersichtlich ist und sie bei mir verschiedene Assoziationen auslösen“, sagt Aerni. Seine Methoden der Verrätselung sind die Isolation der Objekte von ihrem Kontext oder auch die „Verunklärung des Maßstabs“.
Das Ergebnis dieser Methoden ist eine ungeheure Verdichtung, eine Art „Dichte Beschreibung“, um das theoretische Konzept des Anthropologen Clifford Geertz in diesem Kontext zu verwenden. Wie Geertz ist sich Aerni bewusst, dass es keine reinen Daten gibt, sondern vor allem Vermutungen und Einschätzungen, die er fotografisch in Beziehung bringt.
Es ist vor allem die Komposition, welche zu der Komplexität der Bilder führt. Und das Wissen darum, dass Alterungs- und Verwitterungsprozesse, dass eine Patina den Dingen geistige Tiefe gibt. Das von Nadine Olonetzky und Peter Pfrunder herausgegebene Buch konzentriert sich auf Arbeiten, die in den vergangenen zehn Jahren entstanden sind. Und um das nicht zu vergessen: Die Gestaltung von Hanna Williamson-Koller und auch der Druck sind ein wirklicher Genuss. Texte von Peter Pfrunder, Nadine Olonetzky und Sabine von Fischer komplettieren diesen schönen Band.
Bis zum 16. Oktober 2022 zeigt die Fotostiftung Schweiz in Winterthur die Ausstellung „Georg Aerni. Silent Transition“.

03.06.2022
Marc Peschke
GEORG AERNI – SILENT TRANSITION
Neue Werke. Hrsg.: Nadine Olonetzky, Peter Pfrunder und Fotostiftung Schweiz. Beitr.: Sabine von Fischer, Nadine Olonetzky und Peter Pfrunder In Zusammenarbeit mit Codax Publisher, ZĂĽrich. 192 S., 166 meist fb. Abb., 24 x 34 cm. Br. Scheidegger & Spiess, ZĂĽrich 2022. EUR 48,00 CHF 49,00
ISBN 978-3-03942-074-2   [Scheidegger & Spiess]
 
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