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Paris 1930 –. Fotografie der Avantgarde

Gäbe es in der Geschichte der Fotografie, ähnlich wie in der niederländischen Malerei, den Begriff des „Goldenen Zeitalters“, so wäre es wohl die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen. Technische Entwicklungen, die ansteigende Vervielfältigung in Zeitungen und Illustrierten sowie neue Gebrauchsmedien, darunter Werbe- und Modefotografie, ermöglichen eine bis dato nicht vorhandene Verbreitung des zu diesem Zeitpunkt bereits rund 100 jährigen Mediums. Erste Fotoschulen sowie Werbe- und Pressebildagenturen verändern den bisherigen Umgang und bewirken eine zunehmende Professionalisierung. Gleichzeitig findet die Fotografie in einem bisher nicht gewesenen Ausmaß Eingang in die bildende Kunst. Insbesondere die Künstler der verschiedenen Avantgardebewegungen entdecken in den Zwischenkriegsjahren die Fotografie als Ausdrucksmedium und bringen eine gewaltige künstlerische Vielfalt hervor; darunter das Neue Sehen, der Surrealismus, die sozialdokumentarische Fotografie. Diese Entwicklungen finden in ganz Europa statt. Doch in besonderem Ausmaß intensivieren sie sich in Paris und machen die Stadt zu einem Schmelztiegel der fotografischen Avantgarde.
Die dortige enorme fotografische Vielfalt aufzuzeigen, ist Ziel des Kataloges, welcher begleitend zur gleichnamigen Ausstellung in den Kunstsammlungen Chemnitz erschienen ist. Ohnehin Zentrum der westlichen Avantgarde, zog die französische Hauptstadt Künstler*innen aus ganz Europa und den USA an, die hier auf ihren Durchbruch hofften. Viele waren bisher in anderen Bereichen tätig und fanden erst in Paris ihren Weg zur Fotografie. Die vorherrschende Stildiversität ist dementsprechend der unterschiedlichen nationalen, künstlerischen, politischen und beruflichen Herkunft der Zugezogenen geschuldet. Vor allem aus Deutschland und Osteuropa stammende Künstler*innen − oft Exilant*innen, darunter ein hoher Anteil an Frauen − beeinflussten und entwickelten in Paris neue fotografische Lösungen innerhalb der unterschiedlichen avantgardistischen Strömungen. Die Künstler*innenauswahl des Katalogs umfasst sowohl bekannte Namen wie Man Ray und Germaine Krull als auch weniger bekannte Positionen wie Eli Lotar und Jacques-André Boiffard und zeigt Aufnahmen von 1927 bis 1939. Den hohen Anteil Frauen spiegelt er mit einer Quote von fast einem Viertel der vorgestellten Positionen wider. Kurzbiographien am Ende der Publikation geben einen genaueren Einblick in die einzelnen Biografien und zeigen, wie sehr die fotografische Produktion in Paris durch ein Kommen und Gehen geprägt war.
In verschiedenen Aufsätzen beleuchtet der Katalog die Fülle der Pariser Fotografie: Als Herausgeber und Kurator der gleichnamigen Ausstellung umreißt der Fotohistoriker Philipp Freytag die fotografische Produktion sowie die vorherrschenden Umstände der Pariser Zwischenkriegsjahre, wobei er u.a. einen Fokus auf die neue Bedeutung von Publikationsmedien legt. Beispielhaft folgt ein Beitrag Ulrike Blumenthals über die Fotografien Brassaïs, welche der Fotograf für die Zeitschrift Minotaure von dem Atelier Pablo Picassos aufgenommen hat. Mittels einer neuartigen dokumentarischen, zugleich intimen Bildsprache konstruiert er den Künstler als Genie, ohne diesen selbst abzulichten. Christian Joschke gibt einen Einblick in die aufkommende sozialdokumentarische Fotografie und ihre Verbreitung in Kunstmagazinen und Arbeiterzeitungen. Im Kontext wiederkehrender Realismustendenzen entstehen Aufnahmen, welche mittels einer gleichzeitig dokumentarischer sowie piktoralistischer Bildsprache soziale Ungerechtigkeiten im Pariser Alltagsleben offenlegen; darunter Fotografien von Germaine Krull, Alfred Eisenstadt und André Papillon. Abschließend erläutert Joanna Straczowski die damalige abstrakte Fotografie, welche in diesen Jahren ihre erste Hochphase erfuhr und maßgeblich zur Anerkennung der Fotografie durch die bildende Kunst beitrug. Hierfür wählt sie einen Vergleich der experimentellen Produktionsverfahren Man Rays und Moholy-Nagys in der Dunkelkammer. Die Wahl des letzteren erschließt sich durch seine künstlerische Bedeutung. Soweit der Rezensentin jedoch bekannt, hielt sich Moholy-Nagy nie für eine längere Zeit in Paris auf. Eine Abgrenzung oder eine Konzentration auf Pariser Positionen wäre an dieser Stelle eventuell sinnvoll gewesen.
Alles in allem bietet der Katalog einen umfassenden Einblick in die vielfältige Pariser Fotografie der Avantgarde und weckt die Neugierde zur weiteren Beschäftigung – und das ganz ohne die omnipräsenten Klischeebilder der französischen Hauptstadt aufzunehmen.

05.10.2020
Valentina Bay
Paris 1930. Fotografie der Avantgarde. Hrsg.: Bußmann, Frédéric; Freytag, Philipp. 152 S. 157 z. T. fb. Abb. 28 x 22 cm. Sandstein Verlag, Dresden 2020. EUR 34,00. CHF 54,00
ISBN 978-3-95498-534-0
 
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