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Annie Leibovitz – Portraits

„Mir ist es immer um ein Portrait zu tun, das die Zeiten ĂŒberdauert. Und ganz gleich, welcher AusrĂŒstung man sich bedient, wie eine Photosession letztlich ablĂ€uft, lĂ€sst sich kaum je vorhersagen. Das Portrait ist immer eine Sache des Augenblicks“, reflektiert die amerikanische Fotografin Annie Leibovitz (*1949) ĂŒber ihr Werk (S. 305). Nach „Annie Leibovitz 1970–1990“ und „A Photographer’s Life, 1990–2005“, die ebenfalls bei Schirmer/Mosel erschienen sind, ist „Annie Leibovitz. Portraits 2005–2016“ der dritte Werkbericht der Fotografin, in dem sie sich nun fast ausschließlich auf Portraits konzentriert.
Das Cover des monumentalen Bildbandes – er ist wirklich nur fĂŒr das Heimstudium geeignet, nicht fĂŒr die Handtasche – ziert vorn die Performance-KĂŒnstlerin Marina Abramović im Eva-KostĂŒm mit WĂŒrgeschlange. RĂŒckseitig ist der Schauspieler James Franco als Adam mit Feigenblatt vor dem GemĂ€cht abgebildet. Wo sonst sollte eine Schilderung des Menschenbildes beginnen? Schön und unerwartet folgt dann das Vorsatzpapier mit einer Detailaufnahme aus Emily Dickinsons Herbarium, das in der Bibliothek der Harvard UniversitĂ€t bewahrt wird. Diesen Pflanzendetails folgt das erste Gruppenportrait: Es ist – im Gegensatz zu dem dann einsetzenden Portraitreigen – klein und eher unscheinbar, aber der KĂŒnstlerin doch offenbar wichtig, denn es zeigt Annie Leibovitz mit ihren drei Töchtern, denen sie das Buch gewidmet hat. Diese Fotografie bleibt der einzige familiĂ€re Bezug, nachdem „A Photographer’s Life“ viele private Aufnahmen beinhaltete und Leibovitz diesen „getrieben und wie besessen“ erarbeiteten, sehr persönlichen Band nach seiner Veröffentlichung nicht unkritisch betrachtete. Dass ihre langjĂ€hrige LebensgefĂ€hrtin Susan Sontag in dem aktuellen Band, der die Jahre 2005 bis 2016 abdeckt, fehlt, ist nicht verwunderlich, da die Schriftstellerin 2004 an einer LeukĂ€mieerkrankung verstorben ist. Die aktuelle Publikation zeigt damit auch den Beginn einer neuen Zeitrechnung, obwohl ein paar Fotografien von vor 2005 Eingang in die Auswahl des Buches gefunden haben, die sich vom Sujet nicht in den persönlicheren VorgĂ€ngerband hatten einfĂŒgen lassen.

In 150 zumeist doppelseitigen Farb- und Schwarzweiß-Aufnahmen entfesselt Leibovitz einen wahren Bilderrausch, der ein aussagekrĂ€ftiges Kaleidoskop der Gegenwartskultur aus Film und Fernsehen, Musik, Literatur, Kunst, Wissenschaft, Architektur und Politik sowie Sport und Lifestyle bildet: Aus dem Bereich Sport sind u.a. David Beckham, LeBron James, Michael Phelps und die Tennisschwestern Williams vertreten. Aus dem Film- und Fernsehbereich sind es u.a. Nicole Kidman, Cate Blanchett, Judi Dench, Helen Mirren, Kate Winslet, Filmdiva Sophia Loren, Scarlett Johansson, Lena Dunham sowie Adam Driver, Jack Nicholson, Clint Eastwood, George Clooney, Johnny Depp und Neal Patrick Harris und Regisseur Woody Allen sowie die Moderatoren Jimmy Fallon und Fernsehlegende Oprah Winfrey. Die Musikszene ist vertreten durch Rihanna, Lady Gaga, Patti Smith, Adele, Sting und Bruce Springsteen. Die bildende Kunst durch Bruce Nauman, Kara Walker, David Hockney, Jeff Koons (nackt!), Cindy Sherman, Ellsworth Kelly und Sally Mann. Auch Menschen, die jĂŒngst verstorben sind, hat Leibovitz in den vergangenen Jahren noch fotografiert, darunter den Physiker Stephen Hawking, den Musiker Leonard Cohen und die Architektin Zaha Hadid.

Die Liste der BerĂŒhmtheiten, die in diesem Band versammelt sind, ließe sich noch weiter fortsetzen und jeder Betrachter wird vermutlich andere Prominente wiedererkennen. Jede Aufnahme ist mit einer Bildunterschrift aus Name, Entstehungsort und -jahr versehen, wobei zur Wiederauffindung bei der enormen Bilderflut am Ende des Buches Kurzbiographien und entsprechende Seitenverweise versammelt sind. Gern wĂŒsste man mehr ĂŒber die HintergrĂŒnde der Entstehung dieser Fotos. Hier ist der dreiseitige Text von Leibovitz im Buchanhang zu empfehlen, der aber nur wenige Beispiele erlĂ€utert. Ein zweites Textinsert ist weiter vorne angesiedelt: Die Schriftstellerin Alexandra Fuller hat die etwas unergiebige Textimprovisation „Die ungesehene Sehende, in 13 Schritten“ beigesteuert (S. 28-33).

NatĂŒrlich sind einige Bilder Auftragsarbeiten fĂŒr Magazine (Leibovitz arbeitete lange fĂŒr das Rolling Stone-Magazin und war MitgrĂŒnderin der amerikanischen Vanity Fair), doch was Leibovitz in jedem Bild gelingt, ist ein Blick hinter die Kulissen. Es sind intime, persönliche Bilder, ohne zu entblĂ¶ĂŸen, mit denen sich die Gezeigten zu identifizieren scheinen. Das mag nicht immer nachvollziehbar sein, wenn man Kim Kardashian und Kanye West mit ihrem Neugeborenen im selbstdarstellerischen Fotorausch oder Schauspielerin Angelina Jolie sieht, die sich in der Rolle des zarten, doch heilsbringender Engel gefĂ€llt. Die Namen der Portraitierten zeigen auch, dass der Fotografin alle TĂŒren offenstehen und ihr kĂŒnstlerischer Ruf ihr die Möglichkeit gibt, mit jeder und jedem von Rang und Namen zu arbeiten. Dabei arbeitet Leibovitz nur selten im Studio, meist trifft sie den zu Portraitierenden, fĂŒhlt sich ein und daraus entstehen einmalige Aufnahmen, die die Grenzen zum Betrachter verwischen, die unglaubliche NĂ€he ermöglichen (Barack Obama S. 96/97; Benedict Cumberbatch S. 234/235). Besonders beeindruckend ist die FlexibilitĂ€t, mit der Leibovitz fotografiert. Zwar haben ihre Aufnahmen eine kĂŒnstlerische Handschrift, die manchmal vollkommen ĂŒbertrieben scheint, doch stellt sie sich mit jedem Portrait neu auf das GegenĂŒber ein und arbeitet etwas Charakteristisches heraus, das das Bild „die Zeiten ĂŒberdauern“ lassen wird: Verletzlich zart zeigt sie die junge Miley Cyrus mit GĂ€nsehaut, Florence Welch wird zu einer prĂ€raffaelitischen Schönheit und selbst von Queen Elizabeth II. entstehen nicht nur reprĂ€sentative Bilder sondern auch persönlichere Aufnahmen als Dame, (Groß-)Mutter oder stolzer Gutsbesitzerin. Betrachtet man das Bild von Yoko Ono erinnert es automatisch an Leibovitz’ berĂŒhmte Aufnahmen von John Lennon und Yoko Ono, die die Fotografin nur wenige Stunden vor Lennons Ermordung machte. Herausstechend sind auch die nicht-Portraits. Diese Aufnahmen stehen in Bezug zu Leibovitz‘ Bildband „Pilgrimage“ (2011). Es sind Werke, die „keine Menschen zeigen, aber dennoch eine Art Portraitcharakter haben“ (S. 304), darunter Georgia O’Keefes roter HĂŒgel in New Mexiko (S.48/49) oder Robert Smithsons ikonische Spiral Jetty am Great Salt Lake (Utah).

Das Ende des Buchs hatte Annie Leibovitz, wie sie im Nachwort verrĂ€t, bei der Konzeption des Bildbandes eigentlich fest mit einer Aufnahme von Hillary Clinton als PrĂ€sidentin der USA im Oval Office geplant. Nun bleibt es bei einer Aufnahme der Politikerin als Außenministerin.
Betrachtet man Leibovitz’ ausdrucksstarke Bilder von PrĂ€sident Barack Obama (und seiner Familie), so ist es einmal mehr schade, dass sein Nachfolger ein proletenhafter Firmentycoon geworden ist, der im teuren Auto sitzend wĂ€hrend seine halbnackte und sehr schwangere Gattin dem Flugzeug entsteigt von Leibovitz portraitiert wird. Offen bleibt, ob es ein Zufall ist, dass Leibovitz das prĂ€-PrĂ€sidenten-Bild Trumps zwischen der nackten Lady Gaga und dem zerstörten Fernseher von Elvis Presley positioniert hat..
Offen bleibt, ob es ein Zufall ist, dass Leibovitz das prÀ-PrÀsidenten-Bild Trumps zwischen der nackten Lady Gaga und dem zerstörten Fernseher von Elvis Presley positioniert hat.

Die inhaltliche Spannbreite zwischen einer Aufnahme der pakistanischen Kinderrechtsaktivistin Malala Yousafzai, die 2014 den Friedensnobelpreis erhielt, und einem Portrait der BrĂŒder Weinstein mit Mutter (entstanden 2003), das den aktuellen Skandal in der amerikanischen Filmindustrie wachruft, zeigt einmal mehr, dass Leibovitz hier eine angelsĂ€chsisch-amerikanische Zeitkapsel der Gegenwartskultur zusammengestellt hat, die die ersten beiden Dekaden einer globalisierten Welt nach der Jahrtausendwende reprĂ€sentieren. Wenn wir einmal von dieser Zeit, ihren Konflikten, ihren Filmen, ihrem Sport, ihrer Musik oder ihrer Kunst erzĂ€hlen wollen, sollten wir diesen Band hinzuziehen.

22.05.2018
Gloria Köpnick
Annie Leibovitz. Portraits 2005-2016. Beitr.: Fuller, Alexandra. 316 S. z. T. fb. Abb. 36 x 27 cm. Gb. Schirmer & Mosel, MĂŒnchen 2017. EUR 68,00. CHF 78,20
ISBN 978-3-8296-0815-2
 
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